Auvers-sur-Oise Wie starb Vincent van Gogh?

Von Christoph Driessen

Es ist nur ein leerer Raum. Ein kleiner leerer Raum mit einem Stuhl und einem Dachfenster. Und doch beginnen manche Leute hier zu weinen. Sie sind von weit hergekommen, um dieses Zimmer zu sehen. Die Dachkammer in Auvers-sur-Oise, in der Vincent van Gogh vor 125 Jahren starb.

Sonntag, der 27. Juli 1890, war ein heißer Sommertag. Deshalb fiel es gleich auf, als sich der Holländer abends mit zugeknöpfter Jacke auf sein Zimmer im Gasthof Ravoux schleppte. «Er hielt sich den Bauch und hinkte irgendwie», erinnerte sich später einer der Gäste. Der Wirt Gustave Ravoux fand die Sache merkwürdig und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, so wie dies auch die Besucher heute tun. Da lag Vincent schmerzverkrümmt auf seinem Bett. Was ihm fehle? «Je me suis blessé», war die Antwort. «Ich habe mich verletzt.» Er hatte eine Kugel im Bauch.

Was in den fünf bis sechs Stunden zuvor genau geschehen war, ist bis heute ein Rätsel. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass sich an diesem Tag eine Katastrophe ereignen würde. Nach dem Mittagessen war van Gogh wie gewohnt mit Pinseln, Farben und Staffelei losgezogen, um draußen zu malen. Man kann seinen letzten Weg nachgehen, quer durch die Gassen, in denen sich so wenig verändert hat.

«Auvers ist sehr schön, wirklich durch und durch schön», fand van Gogh. Seit er sich im Mai dort niedergelassen hatte, befand er sich in einem Schaffensrausch: 80 Gemälde in 70 Tagen, dazu viele Zeichnungen. Wer sie kennt, wird bei seinem ersten Besuch in Auvers das Gefühl haben, schon mal dort gewesen zu sein. Die Kirche, das Rathaus, die geduckten Häuschen, der Fluss - alles ist noch da.

Bei Doktor Gachet ist van Gogh an diesem Tag nicht eingekehrt. Paul Gachet war der Arzt, der ihn wegen seiner psychischen Störungen behandelte. Das Porträt, das er von ihm malte, erzielte 1990 - genau 100 Jahre später - einen weltweiten Rekordpreis von 82,5 Millionen Dollar. Zu Lebzeiten dagegen war van Gogh völlig auf Zuwendungen seines jüngeren Bruders Theo angewiesen. «Ich fühle mich auf der ganzen Linie gescheitert», schrieb er in Auvers.

Das Haus von Dr. Gachet kann heute besichtigt werden. Im Garten befindet sich sogar noch das Plumpsklo, von dem es heißt, dass auch der Maler es benutzt habe. In dem Garten verbrachte van Gogh manch glückliche Stunde. Helfen konnte ihm der Arzt aber nicht.

Nach seiner eigenen Aussage hat es ihn an jenem Sonntagnachmittag wieder in die Weizenfelder hinter der Kirche getrieben. Es gibt sie bis heute. Goldgelb unter tiefblauem Himmel liegen die Felder im Sommer da, und wenn man in die Hände klatscht, flattern Krähen auf. Das berühmte «letzte Gemälde», das «Weizenfeld mit Raben» aus dem Vincent-van-Gogh-Museum in Amsterdam - hier kann man es geradezu durchschreiten. Die Einsamkeit, die van Gogh in den Feldern empfand, ist immer noch spürbar. Keine Menschenseele weit und breit.

Hier also hat er vor seiner Staffelei gestanden. Er hatte die Angewohnheit, jedesmal wenn er seine kleinen Striche auf die Leinwand gesetzt hatte, den Kopf in den Nacken zu legen und das Bild mit halb zugekniffenen Augen zu betrachten. Weder Staffelei noch Malutensilien wurden je gefunden - eines der ungelösten Rätsel seines Todes.

In einer Hinsicht darf man sich nichts vormachen: Wäre man ihm an jenem verhängnisvollen Tag in den Weizenfeldern begegnet, man hätte einen Bogen um ihn gemacht. Der junge Maler Anton Hirschig, der im Gasthof Ravoux das Zimmer neben ihm mietete, hatte regelrecht Angst vor ihm: «Ich sehe ihn noch auf der Bank vor dem Fenster des kleinen Cafés sitzen. Mit dem wilden Blick, in dem so etwas Verrücktes lag, dass ich es nicht wagte, ihn anzusehen.»

Wer doch mit ihm ins Gespräch kam, hatte ganz stark das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmte. «Flog ein Vogel vorbei, während man mit ihm plauderte, dann warf er ihm nicht nur einen kurzen Blick zu, sondern drehte den ganzen Kopf, um zu sehen, was für ein Vogel es war», erinnerte sich einer seiner Gesprächspartner aus Auvers. «Er hatte einen starren, mechanischen Blick.»

Und dann natürlich das Ohr, oder besser: das fehlende Ohr. «Es war das Erste, was einem bei ihm auffiel», sagte einer der Einwohner. «Und es war sehr hässlich.» Nach einem Streit mit seinem Malerfreund Paul Gauguin hatte er 1888 zum Rasiermesser gegriffen und sich verstümmelt.

Ein paar Jugendliche hatten Spaß daran, den «Irren» zu piesacken. Sie schütteten ihm Salz in den Kaffee und steckten ihm eine Grasschlange in seinen Malkasten - worüber er furchtbar erschrak. Rädelsführer war der 16 Jahre alte René Secrétan, Sohn reicher Leute aus Paris, der in Auvers seine Ferien verbrachte. Er liebte es, in einem Cowboykostüm herumzustolzieren, das er sich bei einem Auftritt des legendären Westernhelden Buffalo Bill in Paris gekauft hatte. Dazu gehörte auch eine echte Pistole.

Van Gogh nannte ihn «Buffalo Bill», was durch seinen Akzent aber eher klang wie «Puffalo Pill». Secrétan revanchierte sich, indem er den Maler als «treuen Liebhaber der Handarbeit» verspottete, seit er ihn einmal in einem Wäldchen beim Masturbieren überrascht hatte. Noch 1956, als 82-jähriger Greis, erinnerte sich Secrétan: «Unser Lieblingsspiel bestand darin, ihn wütend zu machen.» Irgendwann habe van Gogh wohl seine herumliegende Pistole gefunden und an sich genommen.

Manche Forscher verdächtigen Secrétan, er selbst sei es gewesen, der den Schuss auf van Gogh abgegeben habe, möglicherweise unbeabsichtigt. «Gerichtsmediziner sicher: Van Gogh wurde ermordet», hieß noch im vergangenen Jahr eine Schlagzeile. Der Kronzeuge gegen diese Theorie ist van Gogh selbst: «Ich habe mir auf dem Feld eine Verletzung zugefügt», sagte er auf seinem Zimmer. «Ich habe dort einen Revolverschuss auf mich abgegeben.» Auch einem Gendarm, der ihn zur Rede stellte, gestand er: «Ich wollte mich umbringen.»

Für seine Verzweiflung gab es einen sehr konkreten Grund: Sein Bruder Theo hatte ihm kurz zuvor mitgeteilt, dass er seine Stelle in einer Pariser Kunsthandlung kündigen und sich selbstständig machen werde. Vincent musste befürchten, dass Theo nun kein Geld mehr haben würde, um ihn zu unterstützen. «Mein Leben ist an der Wurzel angegriffen», erkannte er. Außerdem hatte ihm Theo unmissverständlich klargemacht, dass er niemals mit seiner jungen Familie zu ihm nach Auvers ziehen würde, um dort mit ihm zusammenzuleben. Damit zerplatzte der Lebenstraum Vincents, der selbst nicht in der Lage war, eine feste Beziehung zu einer Frau aufzubauen und eine eigene Familie zu gründen.

«Ist denn keiner da, der mir den Bauch aufschneidet?», stöhnte der Schwerverletzte. Aber Dr. Gachet wagte es nicht, die Kugel herauszuoperieren. Am nächsten Tag traf der geliebte Bruder im Gasthof Ravoux ein. Dies war vielleicht genau das, was van Gogh mit seiner Tat beabsichtigt hatte: Endlich war er nicht mehr allein. Er war zusammen mit dem Menschen, der ihm auf der Welt am meisten bedeutete und dem er in 650 Briefen einen laufenden Kommentar zu seiner künstlerischen Entwicklung geliefert hatte.

Viele Stunden sprachen die Brüder miteinander, bis zum Abend. Vincent saß aufrecht auf dem niedrigen Eisenbett unter dem Dachfenster und rauchte Pfeife, Theo hockte auf einem niedrigen Stuhl mit geflochtener Sitzfläche. Der Stuhl muss so ähnlich ausgesehen haben wie der, auf dem jetzt auch der Besucher Platz nimmt. Theo hielt die Schussverletzung seines Bruders nicht für lebensbedrohlich.

Aber er begriff jetzt: «Er war einsam, und manchmal war es mehr, als er ertragen konnte.» Gegen Abend verschlechterte sich Vincents Zustand dramatisch. Sein Gesicht wurde kalkweiß, und er bekam keine Luft mehr. Theo hielt ihn im Arm. Tief in der Nacht, es war schon der 29. Juli angebrochen, flüsterte ihm Vincent zu: «So möchte ich sterben.» Es waren seine letzten Worte, eine halbe Stunde später war er tot. Er war 37 Jahre alt geworden. Der syphiliskranke Theo überlebte ihn nur um ein halbes Jahr. Auf dem Friedhof von Auvers liegen die beiden Brüder nebeneinander begraben. Auf dem Grab wächst Efeu aus dem Garten von Dr. Gachet. Direkt dahinter rauschen die Weizenfelder, in denen sich Vincent die tödliche Verletzung zugefügt hatte.

Was ist es nur, das die Leute im Sterbezimmer des Vincent van Gogh weinen lässt? Ein Grund dürfte sein, dass das Zimmer leer ist. Die Besucher müssen es selbst mit eigenen Vorstellungen füllen. Doch Dominique-Charles Janssens, der den Gasthof gekauft und auf wundervolle Weise restauriert hat, glaubt noch eine andere Anwort zu kennen: «In diesem Zimmer ziehen die Menschen die Bilanz ihres eigenen Lebens. Sie kommen, um van Gogh zu suchen. Aber sie finden sich selbst.» dpa

Reise nach Auvers-sur-Oise

- Der malerische Ort ist vom Pariser Gare du Nord aus in etwa einer Stunde zu erreichen. Im Sommer geht ein direkter Zug, sonst muss man in Valmondois umsteigen. Alle Van-Gogh-Stationen sind zu Fuß zu erreichen.

- Van Goghs Sterbezimmer ist geöffnet vom 4. März bis zum 31. Oktober, jeweils mittwochs bis sonntags von 10.00 bis 18.00 Uhr. Gruppen nur vormittags nach Anmeldung. Eintritt 6 Euro, Kinder gratis. Im Gasthof kann man auch essen. Kontakt: Stéphanie Piard, Tel.: +33 1 30 366060, E-Mail: stephanie.piard@vangoghfrance.com.

- Das Haus von Dr. Gachet ist geöffnet vom 4. April bis zum 1. November, mittwochs bis sonntags von 10.30 Uhr bis 18.30 Uhr.

- Mehrere Bilder van Goghs aus seiner Zeit in Auvers hängen im Musée d'Orsay in Paris.

(Gasthof Ravoux mit Sterbezimmer, Place de la Mairie, 95430 Auvers-sur-Oise)