Witzigmann Täglich wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben

Von Sabine Dobel

Erbsensuppe mit Knackwurst als Gipfel des Genusses? Über Geschmack, Nachhaltigkeit, das allgemeine Kochfieber und die Fußball-EM spricht Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann zu seinem 75. Geburtstag am 4. Juli.

Kochkurse, Kochbücher, Kochsendungen. Männer, die etwas auf sich halten, können kochen - oder behaupten es jedenfalls. Was fasziniert die Menschen so am Herd?

Beim Kochen funktioniert die so heftig beschworene Gleichberechtigung schon lange, da wird geschlechterübergreifend an den Herden gearbeitet. Früher war es das offene Feuer, um das sich die Menschen geschart haben, heute scheint es der Herd zu sein. Ich traue dem Ganzen aber nicht so ganz. Auf der einen Seite kocht Deutschland fast über, auf allen Kanälen wird über Frische und Nachhaltigkeit parliert, die Küchen sind absolute High-Tech-Tempel geworden und die Umsätze von Tiefkühlkost und Convenience-Food steigen rapide. Das passt eigentlich nicht zusammen.

Sie haben der Nouvelle Cuisine mit zum Durchbruch verholfen. Gibt es eine neue «Revolution» - oder zumindest einen Trend?

Ich habe den Stein ins Wasser geworfen, der heute immer noch Ringe treibt, das war wichtig und darauf bin ich auch stolz. Aber die Mission ist noch lange nicht zu Ende. Noch nie wurde so viel über gesundes Essen gesprochen und noch nie wurde so viel Fast Food verkauft. Der Trend ist, dass es keinen gibt. Heute ist alles möglich, da wird fast täglich eine neue Sau durchs Dorf getrieben. In London gibt es jetzt ein Restaurant für Nackte. Ich halte das nicht für einen Trend, sondern für einen Auswuchs. Aber wer das toll findet, kann ja hingehen.

Zeige mir, was - und wie - du isst, und ich sage dir, wer du bist: Essen Reiche anders als Arme, Sportler anders als Künstler, Politiker anders als Filmstars?

Vor dem Essen steht das Wissen über das Essen. Und wenn das nicht vorhanden ist, macht die gesellschaftliche Zuordnung keinen Unterschied. Einzige Ausnahme ist, wenn ich nicht die finanziellen Mittel habe, mich so zu ernähren, wie ich es gerne tun würde. Sicher essen die Reichen anders als die Armen, aber vielleicht nicht zwingend besser und gesünder. Ich habe Politiker erlebt, für die ist Erbsensuppe mit Knackwurst der Gipfel des Genusses und Filmstars, die Risotto für einen Ort auf Sizilien halten. Glamour und Geld schützen nicht vor schlechtem Geschmack.

Witzigmann-Palazzo, Event-Essen: Reicht Essen alleine oder Show alleine nicht mehr aus?

Brot und Spiele haben die Menschen immer schon fasziniert und Varietés mit Essen und Trinken gibt es von jeher. Das ist eine nette Abwechslung, die sich viele einmal im Jahr gönnen. Ich gehe jedoch davon aus, dass wir nicht auf dem Weg sind, dass sich die gesamte Menschheit nur noch bei Events mit Shows ernähren wird.

Die Bauern klagen über Preisverfall - und die Discounter überbieten sich mit Billigpreisen. Sogar konventionell gezüchtete Pflanzen werden patentiert. Wo führt uns diese Entwicklung hin?

Dabei müssen wir mal festhalten, dass in keiner anderen Industrienation die Lebensmittel so billig wie in Deutschland sind. Da ist Geiz immer noch geil, und die Skandale nimmt man gelassen zur Kenntnis. Die Erkenntnis, dass Qualität ihren Preis hat, macht sich leider nur im Schneckentempo bemerkbar. Da wird viel darüber gesprochen, aber abgestimmt wird an der Ladenkasse. Ich kann nur hoffen, dass die Konsumenten der ersten Hälfte des Wortes Lebensmittel wieder mehr Bedeutung beimessen und nicht nur dem Mittel, schnell und günstig satt zu werden.

Die Menschheit wächst, die Industrie präsentiert als Lösung intensive Landwirtschaft und genveränderte Pflanzen. Sehen Sie eine Alternative? Werden wir bald von Algen leben?

Diese Frage ist eine Falle: Sie spielt Quantität gegen Qualität aus. Wir wissen alle, dass natürlich angebaute Lebensmittel und artgerecht gehaltene Tiere das Beste für Natur und Menschen sind. Die industrielle Landwirtschaft führt als ihr Verdienst an, den Hunger in der Welt verringert zu haben. Gleichzeitig wissen wir, dass die intensive Landwirtschaft auch neue Probleme schafft. Monokulturen, Erschöpfung der Böden, immens hoher Wasserverbrauch. Das gibt die Erde auf Dauer nicht her. Es ist also nicht die Frage, ob ich eine Alternative sehe - wenn die Menschen überleben wollen, muss es sie geben. Und es wird sie geben. Wenn es uns gelingt, industrielle und nachhaltige Landwirtschaft nicht nur als Gegensatz, sondern als Weg zu sehen, dann wird vielleicht ein Schuh draus.

Ihr Tipp für die Fußball-EM?

Da schlagen natürlich zwei Herzen in meiner Brust. Als Österreicher muss ich leider zur Kenntnis nehmen, dass die Mannschaft aus Austria wie ein Adler kam, aber nun wie ein Suppenhuhn wirkt. Als in München ansässiger habe ich fast die Ahnung, dass Deutschland Europameister werden könnte. dpa

Zum Jubiläums-Menü

ZUR PERSON:

Er kochte für die Reichen und Mächtigen - und verhalf der Nouvelle Cuisine zum Durchbruch. Als erster Koch im deutschsprachigen Raum bekam Eckart Witzigmann drei Sterne, Prominente speisten bei ihm. Inzwischen greift er nicht mehr selbst zum Kochlöffel - sondern gibt sein Wissen weiter. Ein Kochbuch für wenig Betuchte mit günstigen Gerichten zählt ebenso zu seinen Projekten wie einfache Rezepte für Lehrlinge und eine spezielle Kost für Krebspatienten - per App zum Herunterladen. In der globalen digitalisierten Welt müsse man anders an Themen herangehen. «Das gilt auch für die Küche.» 

Schneider hätte er eigentlich werden sollen. 1941 geboren und im österreichischen Ferienort Bad Gastein aufgewachsen, sollte er das Handwerk lernen, genau wie sein Vater. Doch schon als Bub wusste er, dass er Koch werden wollte.

Nach der Lehre lernte er 13 Jahre im Ausland: bei dem französischen Spitzenkoch Paul Bocuse, bei Paul Haeberlin, Roger Vergé und den Brüdern Troisgros.

Als Chefkoch des Münchner Nobellokals «Tantris» begann er 1971 gegen die deutsche Hausmannskost anzukochen. Anstelle fetter Soßen und dicker Knödel wollte er eine neue Küche: Nouvelle Cuisine, zart betonter Eigengeschmack frischer Produkte. Doch erst einmal hagelte es Kritik, Gäste reklamierten.

Witzigmann, dessen Schüler inzwischen vielfach selbst mit Sternen dekoriert sind, blieb jedoch bei seiner Linie. 1978 eröffnete er das legendäre Münchner Edellokal «Aubergine» und bekam 1979 drei Sterne vom französischen «Guide Michelin». Das sei einer der größten Glücksmomente gewesen, sagte er einmal, nicht ohne zu relativieren: Das größte Glück sei freilich die Geburt seiner Kinder gewesen.

1994 verlieh ihm der Gourmet-Führer «Gault Millau» den Titel «Koch des Jahrhunderts». Weitere Auszeichnungen folgten, darunter die Ehren-Professorenwürde der schwedischen Universität Örebro, einer staatlichen Gastronomie-Uni. Zuletzt bekam er 2014 die Walter Scheel-Medaille für «Genusskultur und Lebensart».

Witzigmann kochte für Queen Elizabeth II. und Prince Philip, König Carl Gustaf und Königin Silvia von Schweden, König Hassan von Marokko und den Maharadscha von Jaipur, für Michail Gorbatschow und George Bush, für Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer und Rennfahrer Niki Lauda. Jahrelang bewirtete er danach Gäste des Restauranttheaters «Witzigmann Palazzo» und des «Witzigmann & Roncalli Bajazzo».

Heute übernimmt er vor allem Berater-Aufgaben, etwa in dem von dem Getränkehersteller «Red Bull» gesponserten Restaurant «Ikarus - Hangar 7» am Salzburger Flughafen, wo die besten Köche der Welt gastieren. Er half bei der Eröffnung eines Gourmet-Tempels in Tokio sowie eines Restaurants und einer Kochschule auf Mallorca. Demnächst startet er nach Fernost. «Im Moment stehen Projekte in China, Nordkorea und Vietnam auf der Agenda, die Flüge sind schon gebucht.»

Es geht ihm nicht nur um feine Küche. Die Herkunft der Lebensmittel war ihm schon vor Jahrzehnten wichtig. Ständig wechselnde Lebensmittelskandale machten die Frage noch drängender. In dem Projekt «Die kulinarischen Erben der Alpen» engagiert er sich auch für traditionelle Lebensmittel und Arten, die heute kaum noch jemand kennt: Älplerschokolade, die Berner Zungenwurst, Dörrkastanien, das Sulmtaler Huhn oder ursprüngliche Rassen wie das Evolener Rind.

Gerade berät Witzigmann die Betriebsgastronomie eines Autoherstellers für regionales, saisonales, natürliches Essen. «Und wissen Sie was? Das Konzept kommt an. Sie verkaufen mehr Essen als gedacht. Die Mitarbeiter sind sogar bereit etwas mehr zu bezahlen als üblich.»

Mit Lehrlingen desselben Unternehmens entwickelte er einfache Rezepte für die erste Zeit nach «Hotel Mama». «Wir haben zusammen gekocht und ich habe gelernt wie junge Menschen mit dem Thema umgehen. Sehr spannend. Daraus ist eine wunderschöne App geworden, mit tollen Bildern, einfachen Rezepten und vielen Tipps.» Mit dem Tumorzentrum München konzipierte er eine weitere App für krebskranke Menschen. Als Schirmherr von «Spitzenköche für Afrika» der Äthiopienhilfe «Menschen für Menschen» wirbt er weiter für Spenden - und für Nachhaltigkeit.

Auch wenn er «geschäftlich» nicht mehr kocht: «Privat zieht es mich immer noch an den Herd, ich probiere heute immer noch Neues aus oder versuche Altes zu optimieren.» Seine Lebenspartnerin komme hier immer mehr an ihn heran. «Da könnte ich mir schon vorstellen, dass ich in der Küche irgendwann nur noch Zuschauer und Konsument bin.» dpa