Szene Berlin

Im Internet hat der Berliner Reuter-Kiez den Sprung zum aufstrebenden Szeneviertel noch nicht geschafft: In den Panoramabildern des Straßenatlas Google Street View fristen südlich des Maybachufers in Neukölln noch alte, heruntergekommene Geschäfte ihr Dasein - in Wirklichkeit sind viele bereits trendigen Bars und Kneipen gewichen.

Unverputzte Wände, hölzernes Mobiliar vom Flohmarkt, Kerzenschein und im besten Fall ein Plattenspieler sind angesagt - dazu frische Schnittblumen. Und die Bars pflegen ihr Underground-Image: «Wir wollen nicht genannt werden», sagt der junge Mann mit den wuscheligen schwarzen Haaren hinter dem Tresen lächelnd. Die Namen im Reuter-Kiez lauten unter anderem Ori, Ä, Freies Neukölln, Kuschlowski, Rudimarie und Mama.

Während in fast allen Bundesländern Kneipen dicht machen, floriert die Szene in der Hauptstadt. Die Zahl der Schankwirtschaften hat sich laut Umsatzsteuerstatistik in zehn Jahren fast verdoppelt, ihr Umsatz wuchs sogar noch stärker.

Berlin sei im Gegensatz zu anderen deutschen Städten noch unfertig, sagt der Hauptgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbands, Thomas Lengfelder. Die junge Bevölkerung, der Touristenboom: «Berlin ist eine Stadt, die sich ständig weiterentwickelt und ständig vorangeht.». Außerdem profitiere die Metropole von ihrer Vielfalt. «Wir haben den riesen Vorteil, dass die Stadt nicht nur ein Zentrum hat.»

Das schlägt sich auch in der Kneipenszene nieder. Gegenüber den Szene-Bars in Mitte oder den Hipster-Treffs im Prenzlauer Berg wirkt das Willi Mangler in Schöneberg wie von einem anderen Stern. Von der Decke hängen Landschaftsbilder in goldenen Rahmen, dazwischen ein großes Holzschiff und ein Vogelkäfig. Aus den Lautsprechern schallt «Felicità», das kleine Pils kostet 1,10 Euro.

«Ich bin in Berlin rumgekommen, und das ist eine der urigsten Kneipen», sagt Günter Sommerfeldt (75), der mit seiner Frau Barbara am Tresen steht. Viele Eckkneipen kämpfen um ihre Existenz - doch hier sind unter der Woche die Tische voll. «Hierher kommen alle, vom Senator bis zum kleenen Arbeiter», sagt Geschäftsführerin Birgit Kupsch.

Das MacLaren's in Friedrichshain muss seinen Platz dagegen noch finden. Im Dezember erfüllten die Studenten Mohamad Hachach und Jan Scheer sich einen Traum und öffneten den Irish Pub. «Wir wollten immer schon eine Bar haben», erzählt Hachach. Im Fenster steht die weiße Rüstung eines Stormtroopers aus der Kult-Serie Star Wars. Leicht sei der Schritt zum Barbesitzer nicht, sagt der 25-Jährige. «Es gibt einfach viel zu viele Kneipen, die Konkurrenz ist groß.»

Lengfelder erwartet dennoch, dass der Boom weiter geht. Der Tourismus in Berlin schlägt seit Jahren einen Rekord nach dem anderen. 50 neue Hotels öffnen in den nächsten zwei Jahren, tausende neue Betten für Hauptstadt-Besucher. «Wenn das so kommt, dann wird sicherlich dieser Trend in der Gastronomie auch genauso weitergehen.» dpa

Mehr zum Thema: Berlins Szene-Bars:

Reingold

Drayton Bar

Kingsize Bar

Lebensstern

Bar Tausend

Kleine Geschichte der Kneipe

Das Wort Kneipe kommt, verkürzt von der traditionellen Kneipschenke, aus der Studentensprache des 18. und 19. Jahrhunderts. Kneipe bezeichnete ursprünglich einen Trink- und Singabend in einer studentischen Verbindung. Aus dem Verb «kneipen» für klemmen oder kneifen leitete sich zunächst der Begriff für ein enges Studentenzimmer ab. Später stand Kneipe auch für eine kleine Schenke samt Zechgelage, typisch war der Ausschank von Fassbier an der Theke. Das Wort «Kneipier» ist ein Studenten-Ulk - sie adelten den einfachen Wirt mit einem scheinbar französischen Namen.

Mit der Industrialisierung erfand sich die Kneipe als neuzeitliche Institution neu: Sie wurde ein Arbeitertreffpunkt. Als einfacher Stehausschank erlaubte sie die Flucht aus beengten Wohnverhältnissen und entwickelte sich später mit Tischen und Stühlen zum zweiten Wohnzimmer für politisierende Stammgäste.

Durch den Rückzug ins westdeutsche Familienleben nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Misstrauen der DDR gegenüber unkontrollierten Treffpunkten hatten es die traditionellen Kneipen schwer. Gewiefte Wirte erfanden das Prinzip der Kiezkneipe für ein breitgemischtes Publikum. Die 68er Generation schuf später für sich die Szenekneipe - bewusst schäbig gehalten.

Seit den 1970er Jahren spaltete sich zusätzlich ein neuer Typ von Kneipen für den zahlungskräftigen Mittelstand ab - mit edleren Getränken und Musik je nach Publikumsgeschmack. Für die aufkommende Spaßgeneration etablierten sich «Erlebniskneipen» mit Entertainment.

Den verbliebenen klassischen Eckkneipen mit Stammpublikum drohte durch die neue Nichtraucherschutz-Gesetzgebung der plötzliche Tod. Doch sie wehrten sich vor dem Bundesverfassungsgericht. Das entschied 2008, dass die Kleingastronomie nicht benachteiligt werden dürfe. Viele Bundesländer erlaubten daraufhin in kleinen Kneipen mit weniger als 75 Quadratmetern wieder das Rauchen - aber erst ab 18 Jahren.

Trendforscher: «Die Dorfkneipe ist tot»

In Deutschland sterben die Kneipen aus: Seit 2001 hat jede vierte Schankwirtschaft dicht gemacht, wie Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen. «Die Dorfkneipe ist tot, die Eckkneipe ein Auslaufmodell», sagt der Freizeit- und Zukunftsforscher Horst Opaschowski.

Was hat sich in der deutschen Kneipenkultur verändert?

Opaschowski: «Früher gab es den Konsumdreiklang aus Shopping-, Kino-, Kneipenbesuch. Oder Kirche, Kneipenbesuch, Kirmes. Aber das hat sich überlebt. Inzwischen ist die Dorfkneipe tot, und die Eckkneipe ein Auslaufmodell.»

Warum zieht es die Leute nicht mehr an die Theke?

Opaschowski: «Eine Ursache ist das veränderte Kommunikations- und Ausgehverhalten der Menschen. Heute will man möglichst viel in kurzer Zeit erleben. Wenn junge Leute heute ausgehen, suchen sie nicht mehr das heimische Milieu der Kneipe, sondern sie suchen nach einem Erlebnis, fragen: "Wo ist was los?". Singles fragen: "Welches Szenelokal ist angesagt?" Die dritte Gruppe sind die Männer. Herrenclubs und Männerkneipen haben sich überlebt.»

Welche Rolle spielte die Kneipe früher?

Opaschowski: «Die Kneipe war ein zentraler Ort des Alltags, sie war der Feierabendtreff oder der Treff nach dem Kirchgang. Viele Kneipen sind neben der Kirche entstanden. Damals musste man sich den Kneipengang erst verdienen. Es war ein Gegenpol zur Arbeit, hier konnte man sich gehenlassen. Solch' einen Schlüsselerlebnisort gibt es heute nicht mehr. Die Kneipe als zweites Zuhause hat ausgedient.»

Haben die Deutschen keine Lust mehr auf ihr Feierabendbierchen?

Opaschowski: «Doch, schon. Aber der Bierkonsum verlagert sich von der Theke zum Fernseher Zuhause. Ein weiterer Faktor in unsicheren Zeiten ist das Dilemma von Zeit und Geld. Außerdem ist die Arbeit heute so fordernd, dass die Leute nicht mehr die Ruhe und den Nerv haben, sich an die Theke zurückzuziehen - sie müssen ja schnell nach Hause.»

Aber mit irgendwem müssen die Leute doch reden, oder?

Opaschowski: «Die klassische Thekenkommunikation verschiebt sich in Soziale Netzwerke. Insbesondere für die junge Generation sind Soziale Netzwerke die neue Kneipe des 21. Jahrhunderts, wo man Freunde finden kann, wie auch immer man diese definiert. Die Tresenfreunde von früher waren ja auch keine 'Freunde' in dem Sinne.»

Was sagt das Kneipensterben über unsere Gesellschaft aus?

Opaschowski: «Vieles geht in urbane Zentren. Die Menschen ziehen dahin, wo es Arbeit und Wohlstand gibt. Viele wechseln ihre Wohnorte wie früher die Kleidung, die Immobilie wird mobil. Wenn die Kneipe in einem Dorf stirbt, ist das vielleicht das erste Alarmsignal, dass die Menschen wegziehen. Dann gibt es bald vielleicht auch keine Kirche mehr, keinen Supermarkt, keinen Nahverkehr, und am Ende bleiben nur noch alte Menschen übrig. So gesehen ist das eine Verarmung.» dpa