Den Frühling auf Sizilien entdecken

Von Hanne Walter

«Vorsicht, Glatteis!», warnt ein Schild. Das kann nur ein Spaßvogel aufgestellt haben, beruhigt sich der Tourist im Osten Siziliens, der sein asthmatisch pfeifendes Leihauto tausende von Metern aufwärts quält, um dem Ätna einmal so nah wie möglich zu kommen. Doch die Warnschilder tauchen vor jeder höher gelegenen Serpentine und jeder steilen Kurve auf. Tatsächlich haben sie von Dezember bis März oder April ihre Berechtigung.

Schnee und Eis verwandeln nach dem langen Sommer die höher gelegenen Gebiete in ein einziges Wintermärchen, das die Passagiere vorbeiziehender Schiffe mit weit sichtbarem reinem Weiß und strahlendem Glitzern betört. In zwei großen Skigebieten befördern mehrere Schlepplifte Anfänger und Profis auf blaue, rote und schwarz-rote Pisten, auf denen Skifahrer bis zu 1500 Meter hinabsausen können. Währenddessen feiert das nur 30 Kilometer entfernte Taormina bereits den schönsten Frühling.

Und eines der Hauptnahrungsmittel der Insel zeigt sein Beharrungsvermögen. Die Pflanze macht sich erneut in Ritzen, Mauernischen, auf Brüstungen und an Straßenrändern breit und muss sich wie jedes Jahr darauf gefasst machen, dass es die Knospen wieder nicht zur vollen Blüte schaffen werden. Stattdessen werden die Kapern von Hand geerntet und in grobem Salz, Essig oder Öl zu der pikanten Kochzutat, die einigen italienischen Speisen erst zum Klassikerstatus verholfen hat.

Was wäre Vitello tonnato ohne Kapern? Oder Spaghetti alla puttanesca? Eine besondere sizilianische Spezialität ist Caponata, süßsauer aus Paprika, Zwiebeln, Auberginen, Zucchini, Peperoni, etwas Staudensellerie und eben Kapern zubereitet. Köstliche Gerichte oder rasante Ski- und Rodelabfahrten zu genießen, sind schon Grund genug, nach Sizilien zu reisen. Doch viele suchen etwas anderes: Der eine empfindet Goethes Italienische Reise nach, der andere will einmal in seinem Leben die Erhabenheit des Ätna mit all seinen Launen und Ausbrüchen erleben, der Dritte einfach nur am Meer abhängen oder durch Ortschaften schlendern, in denen «Der Pate» gedreht wurde.

Die meisten reisen bald wieder ab. Eugen Schuler aus Heilbronn ist geblieben. Ihn trieb ein Ohrenleiden in den Süden. Er hatte so manches gehört vom milden mediterranen Klima, das Linderung versprach. Das war 1886 und Eugen gerade 20. Zunächst fand er Aufnahme in der deutschen Kolonie in Messina, zu der auch Konrad Duden gehörte, und machte sich mit einem Schmuckgeschäft selbständig. Nach ein paar Jahren zog es ihn weiter südwärts. Schon auf dem Bahnhof Taormina-Giardini wies ihn ein Bekannter auf ein leerstehendes Erdgeschoss hin. Schuler verliebte sich auf der Stelle in den Ort und wurde Antiquitätenhändler.

Später kaufte Schuler sich, inzwischen mit Frau und Kind, ein Grundstück mit traumhaftem Ausblick und baute ein schönes Haus mit großem Laden im Parterre, in dem er seine Schätze ausstellen konnte. Doch 1905 starb er mit nur 39 Jahren. Seine junge Witwe Anna machte aus dem Haus eine Pension: die «Villa Schuler». Das war ein weiser Entschluss, denn Taormina war bereits zum attraktiven Ferienziel geworden, das bald Prominente von Johannes Brahms über Thomas Mann und später Truman Capote bis Marlene Dietrich anzog.

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude schwer beschädigt, doch Mitte der 1950er waren die ersten Zimmer wieder bewohnbar. Gerhard Schuler, 1954 geboren, führt die Villa mit 27 Zimmern und Suiten nun in dritter Generation als ältestes inhabergeführtes Hotel Siziliens. Schuler hat noch erlebt, wie auf dem Corso Umberto, der Flaniermeile Taorminas, zu dem man auf kurzem Wege durch seinen üppigen Garten gelangen kann, die Frauen mit ihrer Handstickerei vor den Haustüren saßen und auf die aus den Bergdörfern kommenden Wagen mit frischem Gemüse warteten.

Wo heute in mittelalterlichen Häusern und Palästen Mode von Prada und Armani zu haben ist, wurden noch in den fünfziger Jahren Ziegen gemolken und die frische Milch gleich verkauft. Die Perle Taorminas, das antike griechisch-römische Amphitheater, trotzt mit seiner ausgeklügelten Architektur seit über 2000 Jahren allen neuen Strömungen. Zugegeben, die ohnehin perfekte Akustik wird technisch noch etwas aufgepeppt, aber an so manchem Konzertabend wäre nicht mal eine Lichtshow vonnöten.

Zur Linken gleiten vor der Küste die Ozeanriesen wie mit Lichtern überladene Weihnachtsbäume vorüber, von oben beleuchtet ein satter Mond die Szenerie, und hinter dem Bühnenrund spuckt der Ätna weithin sichtbar rotglühende Lavaströme.

Über den Ätna erzählt Gerhard Schuler voller Leidenschaft und Sachkenntnis. Kein Wunder, sein Vater ging viel lieber mit Wissenschaftlern auf Vulkanexpedition, als das Traditionshaus zu leiten. So entwickelte er sich zu einem Experten, der - bevor er mit 83 Jahren starb - seinem Sohn seine Kenntnisse weitergab und ihn mit seiner Passion ansteckte. Kein Wunder: Der Ätna ist als aktivster Vulkan Europas mit regelmäßig mindestens ein bis zwei Ausbrüchen pro Jahr Siziliens Naturereignis schlechthin.

Täglich lässt er Dampf ab, und so schweben selbst bei blitzeblauem Himmel immer ein paar Wölkchen um seinen Gipfel. Im vergangenen Jahr ergoss sich dreimal ein sechs Kilometer langer Lavastrom in die umliegenden Täler. Der sorgte stets für große Aufmerksamkeit, aber nicht für größere Schäden. Im Umkreis von zwölf Kilometern gibt es ohnehin weder Ansiedlungen noch Landwirtschaft. Zum Vulkanischen System zählen 470 Krater, die alle mal tätig waren und Teil des 59 000 Hektar großen Naturschutzgebiets Ätna sind.

Mit kompetenten Führern kommt man im Sommer auf abenteuerlichen Trekkingtouren dem Gipfel von 3350 Metern so nah wie möglich. Manchmal ist das Lavagestein sogar noch warm. Wer auf den anstrengenden, nicht immer ganz ungefährlichen Marsch verzichten möchte, schafft es mit der Seilbahn auf immerhin 2500 Meter Höhe. Muss man aber nicht, denn selbst die Erkundung Taorminas kann zu einer kleinen Bergwanderung werden. Der ursprüngliche Ortskern erhebt sich etwa 200 Meter über dem Meer. In den vergangenen Jahrzehnten entstand daraus Siziliens bekanntester und bestorganisierter Ferienort mit etwa 6000 Betten.

Den Höhenunterschied zum Strand bewältigt eine Seilbahn in nur fünf Minuten. Doch so sehr Gerhard Schuler sein Taormina liebt, er rät Gästen stets, die ganze Insel Zu erkunden. Und so erklimmen sie die atemberaubenden 242 Stufen von Ragusa, um die Kirche Maria delle Scala zu besichtigen, erkunden archäologische Ausgrabungsstätten, die Altstadt Siracusas auf der Halbinsel Ortigia oder bestaunen die Hauptstadt des sizilianischen Barocks, das Unesco-Welterbe Noto.

Wenn Schulers Routenbeschreibung nicht ausreicht, Kartenwerke und Wegweiser in die Irre führen oder das Navi versagt, ist das selbst abseits größerer Touristenorte überhaupt kein Problem: beherzt auf der Dorfstraße nachfragen - und schon bildet sich unter großem Palaver und Lamento ein Konvoi, um den auf Abwegen geratenen Besucher auf den richtigen Weg zu geleiten.

Zum Erkunden der Insel gehört auch, sich durch die regionalen Küchen und Weinkeller zu kosten. Wirte bringen ihre Fische im Korb an den Tisch, zeigen sie stolz wie von ihnen höchstpersönlich aufgezogene Babys. Arabische Einflüsse führen zu einer Kombination von Salzigem, Nussigem und Süßem und gipfeln in den sensationellen mit Pinienkernen gefüllten Sardinen.

In der Gegend von Messina aber, die reichlich vom fischreichen Meer umspült wird, ist Stockfisch, also getrockneter Kabeljau, das Festessen Nummer eins. Nach dem Erdbeben und dem Tsunami von 1908 kamen zwei russische Kriegsschiffe vor allen anderen Helfern im Hafen an und verteilten als erste Hilfe große Mengen an Stockfisch. Daraus und aus den letzten Vorräten an Tomaten, Kapern und Oliven entstand das neue Nationalgericht, das nach wie vor selbst Weihnachten mit Sellerie und Kartoffeln serviert wird. Wie gut, dass schon damals die Kapern vom Blühen abgehalten wurden. dpa

Reise in Siziliens Nordosten, Provinz Messina

Anreise: Flugverbindungen ab Deutschland gibt es nach Catania und Palermo. Ein Mietwagen ist nicht in jedem Falle erforderlich, weil es ein gut ausgebautes Busnetz und praktische Bahnverbindungen gibt. Pläne sind in den Touristenbüros erhältlich. Tickets lassen sich am Kiosk, in Bars oder in Tabacchi-Geschäften kaufen. Zur Einreise nach Italien genügt ein Personalausweis oder Reisepass.

Reisezeit: Für Inselerkundungen sind Frühling und Herbst ideal. Im Juli/August ist es sehr heiß und vor allem im August auch sehr voll, weil traditionell viele Norditaliener in den Ferien in den Süden fahren.

Unterkunft: Von Agriturismo, also Urlaub auf dem Bauernhof, über einfache Pensionen bis zu Sterne-Hotels ist für jeden Anspruch etwas im Angebot. Frühstück ist meistens inklusive. In den vergangenen Jahren sind die Preise gesunken.

Informationen: Italienisches Fremdenverkehrsamt, Barckhausstraße 10, 60325 Frankfurt, Tel: 069/23 74 34, Ufficio Informazione Taormina, Piazza Santa Caterina/Palazzo Corvaja, Tel: 0039/0942/232 43). Italienische Zentrale für Tourismus: enit.it