Eisweinlese 2012

Von Jonas-Erik Schmidt

Bis Weihnachten sind es zwar noch ein paar Tage, aber auf dem Weinberg im Rheingau ist bereits Bescherung. «Das ist perfekt, es kommt kein Saft raus, es ist eine homogene Masse», sagt Dirk Würtz und kaut auf einer tiefgefrorenen Traube herum. Mit einem kräftigen Ruck reißt er in der Nacht zum zweiten Advent eine weitere frostbedeckte Folie an einem Weinstock auf und schaut hinein. Überall kleine, funkelnde Weintrauben.

«40 Liter würde ich hier heute gerne ernten», sagt Würtz, Betriebsleiter des Weinguts Balthasar Ress in Hattenheim im Rheingau. Sein Atem steigt dampfend in die sternenklare Nacht hinauf, als er sagt: «Die schaffen wir heute Nacht auf jeden Fall.»

Zusammen mit rund 15 Helfern ist Würtz kurz vor Mitternacht in den Schnee gezogen, um Trauben für Eiswein zu lesen. Dafür muss es für eine gewisse Zeit sieben Grad minus oder noch kälter sein. Werden die hart gefrorenen Trauben verarbeitet, entsteht ein besonders süßer Wein, da die wässrigen Anteile als Eis in der Kelter zurückbleiben. Der Wein hat dann einen höheren Anteil an Feststoffen - vor allem Zucker. Der Öchsle-Wert ist besonders hoch.

Eiswein ist ein begehrter Tropfen, der allerdings für die Winzer auch ein Risiko bedeutet: Sie spekulieren auf knackigen Frost. «Es gibt auch Jahrgänge, in denen wir die Trauben einfach abbrechen mussten», sagt Christian Ress, Inhaber des Weinguts.

Anders Anfang Dezember 2012. Bereist gegen 18 Uhr war das Thermometer auf minus sieben Grad gefallen. Kurz nach 20 Uhr war für Ress und seine Mitarbeiter klar: Heute oder nie. Sieben Zeilen hatten sie für den Eiswein stehen gelassen.

Zwei kleine Traktoren geben mit ihren Scheinwerfern im Weinberg Licht, während die Helfer durch den Schnee stapfen und Traube für Traube aufsammeln. «Es wird alles geerntet», ruft Betriebsleiter Würtz durch die hessische Nacht. Seine Betonung liegt nachhaltig auf dem Wort «alles». «Das Zeug kostet ein Vermögen», sagt Würtz. Pro Flasche Eiswein rechnet er mit 300 bis 400 Euro. Die Rarität wird in die ganze Welt geliefert.

Der Eiswein ist auch deshalb so teuer, weil die Winzer auf der gleichen Fläche viel weniger Ertrag einfahren können als bei einer herkömmlichen Ernte. «Wir rechnen hier mit rund 40 Litern, normalerweise hätten es bis zu 400 sein können», erklärt Würtz.

Umso früher die Eisweinlese, desto besser. Dann ist nämlich garantiert, dass die Trauben noch nicht gefault sind. «Als der Anruf mit der Frage kam, ob ich Lust hätte zu helfen, habe ich nur "Na klar" gesagt», berichtet Manuela Bürger. Die 24-Jährige arbeitet üblicherweise im gut geheizten Verkaufsladen des Weinguts. Jetzt lässt sie mit dicken Handschuhen rote Trauben in eine Kiste purzeln. «Das muss man miterlebt haben», sagt Bürger.

Nach knapp einer Stunde ist die Ernte vorbei, die Arbeit aber noch lange nicht. Die Trauben müssen direkt gepresst werden, sonst geht der gesamte Frosteffekt verloren. Betriebsleiter Würtz ist der erste Schluck Most vorbehalten.

«Der Geschmack ist glasklar, einfach Weltklasse», verkündet Würtz. In den Gesichtern der Helfer um ihn herum ist Erleichterung zu sehen. Und die erste Messung ergibt: Etwa 170 Grad Öchsle. Mindestens 125 braucht es für Eiswein. Der Saft ist süß, die härteste Arbeit getan, die Stimmung gerettet. Dirk Würtz dreht über eine Stereoanlage Schlagermusik in der Kelterei auf: «Jetzt trinken wir einen.» dpa

Lese in Rheinland-Pfalz

Erstmals in diesem Winter haben Winzer in Rheinland-Pfalz in größerem Stil Trauben für Eiswein gelesen. «Wir hatten zweistellige Minusgrade, das sind perfekte Bedingungen für Eiswein», sagte der Sprecher des Deutschen Weininstituts, Ernst Büscher, am Sonntag der dpa. Nach seiner Einschätzung rückten in den Nächten zum Samstag und zum Sonntag Winzer in allen Weinbauregionen des Landes aus, um gefrorene Trauben für die Spezialität zu lesen.

«Bei zweistelligen Minusgraden wird es ganz hochwertige Eisweine geben», sagte Büscher. Dazu trage auch der «extrem gute Gesundheitszustand» der Beeren bei. Zugleich sei mit den Leseaktionen der Winzer vom Wochenende der bundesweite Startschuss für die diesjährige Eisweinlese gefallen.

Eine erfolgreiche Ernte meldete beispielsweise das Weingut Jakob Schneider aus Niederhausen an der Nahe (Kreis Bad Kreuznach). Am Samstagabend ernteten dort bei Temperaturen von minus 10,5 Grad 20 Helfer in den Niederhäuser Lagen Klamm und Hermannshöhle rund 40 Prozent der durch Folien geschützten Rieslingtrauben.

Das Ergebnis: Rund 220 Liter Eiswein mit einem Mostgewicht von 170 Grad Oechsle sowie rund 200 Liter mit 150 Grad Oechsle. Winzer Jakob Schneider Junior sei «total begeistert» von dem Ergebnis, hieß es in einer Mitteilung. Für die restlichen Trauben hoffe das Weingut auf noch tiefere Temperaturen.

Eiswein wird aus überreifen Weintrauben gewonnen, die bei einer Temperatur von minus sieben Grad oder kälter gelesen und gepresst werden. Er ist besonders süß, weil ein großer Teil des Wassers in den gefrorenen Trauben zurückbleibt - und der Zuckergehalt der Trauben sehr hoch ist. In den Beeren sind schon Moste von mehr als 250 Grad Oechsle gemessen worden. Der Zuckergehalt im Most sowie in Weintrauben wird in Deutschland in Oechsle gemessen.

Die ersten Trauben für Eiswein waren in Rheinland-Pfalz bereits im November geerntet worden - aber nur in einem ganz schmalen Zeitfenster.

Im vergangenen Winter erfüllten laut dem rheinland-pfälzischen Weinbauministerium mehr als 90 Prozent der im Land angemeldeten Weine die gesetzlichen Mindestanforderungen zu den Temperaturen nicht. Sie durften daher nicht als Eiswein vermarktet werden. Eine Reihe von Winzern wehrt sich dagegen bis heute juristisch. Bald werden die ersten Prozesse vor Gericht erwartet. Süßer Eiswein gilt als eine teure Rarität der Winzer.

Lese in Franken

Zahlreiche Weinbauern in Franken haben am späten Samstag und frühen Sonntag die Trauben für den Eiswein gelesen. Bei klirrender Kälte schnitten sie die letzten Früchte von den Rebstöcken. «Es war eine sehr hohe Ausbeute», sagte der Geschäftsführer der Winzergemeinschaft Franken, Michael Schweinberger, am Sonntag. «Die Trauben heuer sind grandios gesund.» Trauben für den Eiswein müssen bei mindestens minus sieben Grad Celsius gelesen und noch im gefrorenen Zustand gepresst werden. So fließt nur ein stark konzentrierter Most von der Presse.

«Das Kälteste, das wir gemessen haben, waren minus elf Grad», sagte Schweinberger. «Das reicht aus für Eiswein.» Unter den Weinbauern war auch Sandra Knoll vom Würzburger Weingut am Stein. Die Winzerin und ihr Mann haben Trauben der Sorte Riesling und Grauburgunder für den Eiswein hängenlassen. «Dieses Jahr eignen sich die Trauben besonders gut, weil es ein sehr gesundes Jahr war und es kaum Fäulnis bei den Trauben gab», sagte Ludwig Knoll.

«Das Wochenende bietet hervorragende Bedingungen für die Eisweinlese, da auch tagsüber Minusgrade gemeldet sind», sagte Hermann Mengler von der Weinfachberatung des Bezirks Unterfranken. «Wir erwarten wunderbare, echte Eisweine - auch von der Sensorik her», sagte der Experte für Kellerwirtschaft.

Das Prägende des Eisweins seien eine glasklare Frucht, der Geschmack von Eisbonbon, gelbfruchtige Noten und ein Hauch von Honig. Ansonsten dominiere vor allem die hervorstechende Säure. Im Gegensatz dazu schmeckten Beerenauslese und Trockenbeerenauslese eher nach Karamell und Rosinen. Auch die Trauben für diese Weine bleiben länger an den Rebstöcken.

Heuer haben Mengler zufolge etwa 40 Winzerbetriebe Trauben für den Eiswein hängenlassen. Damit wird es 2013 wieder deutlich mehr Eiswein geben als in diesem Jahr. Wegen des späten Frostes in der vergangenen Saison wurden lediglich knapp 400 Liter des hochwertigen Getränkes produziert. In den Jahren zuvor waren es zwischen 3000 und 4300 Liter.

Eiswein wurde zufällig entdeckt

Vor rund 180 Jahren wurde in der Gemeinde Bingen-Dromersheim in Rheinhessen erstmals Eiswein hergestellt - allerdings eher aus Versehen als mit Absicht. Weil sie nicht reif genug waren, wurden viele Trauben im Herbst 1829 gar nicht gelesen und blieben stehen. Als im kalten Februar 1830 das Viehfutter knapp wurde, landeten die Trauben in den Trögen. Dabei wurde entdeckt, dass sie einen süßen Saft mit hohem Mostgewicht enthielten - und aus ihnen besserer Wein wurde als aus den Herbsttrauben der guten Jahrgänge.

Heute wird Eiswein gezielt hergestellt. Die Winzer lassen einen Teil ihrer Reben bis weit nach der üblichen Ernte stehen und warten auf Frost. Das kann auch schief gehen: 2008 gab es nur einen Tag, an dem die Eisweinlese möglich war. «Wer den verpasst hat, für den war alles umsonst», sagt der Sprecher des Deutschen Weininstituts in Mainz, Ernst Büscher. Auch der Winter 2011 war zu mild.