Von Doreen Fiedler
Sie sind alleine oder zu zweit gekommen, nun sitzen sie zu sechst zusammen in der Weinstube Hottum in Mainz am Rhein. "Die Mainzer sagen: An einem runden Tisch ist immer Platz", erklärt Rainer Richarts, einer in der bunt zusammengewürfelten Runde. Angeregt unterhalten sich die Männer und Frauen, warum Rheinhessen nicht in Hessen, sondern in Rheinland-Pfalz, aber der Rheingau nicht in Rheinland-Pfalz, sondern in Hessen liegt. "Darüber kann man bei einem Glas Wein gut sinnieren", meint Richarts.
So auf Tuchfühlung gehen Besucher von Restaurants und Bars nicht überall in der Republik. Sich zu Fremden gesellen: Gerade in Gourmetrestaurants ist das undenkbar. Und auch sonst nehme das Einfach-an-den-Tisch-setzen ab, sagt Linda Kaiser, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Knigge-Gesellschaft in Essen. Und zwar, weil die Gäste immer häufiger einen Tisch im Voraus bestellten und weil sie immer häufiger von Servicepersonal an einen Tisch geleitet würden.
Auch Rainer Wälde, Vorsitzender des Deutschen Knigge-Rats im hessischen Frielendorf, sieht einen Trend zur Tisch-Eskorte. "Das ist die amerikanische Kultur, das "please wait to be seated"", sagt er. "Bei den Häusern, welche die gehobene Kundschaft ansprechen möchten, hat es sich durchgesetzt." Wälde gewinnt dem Tischgeleit Positives ab. "Der Gast ist in einem fremden Terrain, er fühlt sich leicht unsicher. Der Kellner oder Restaurantleiter hat eine Schutzfunktion - durch die Eskorte gibt er dem Gast Sicherheit."
Kaiser meint, der neue Gast stelle immer einen Störfaktor dar. "Man hat vielleicht gerade eine Gabel mit Nudeln in den Mund gesteckt, und dann kommt jemand und fragt, ob er sich dazusetzen kann - das ist unangenehm." Wälde spricht sogar davon, dass man am Tisch in eine "intime Distanzzone" eindringe - dorthin, wo eigentlich kein Fremder hinein sollte. "Wir akzeptieren das im Urlaub in fremden Kulturen, aber in der deutschen Kultur will jeder seinen Tisch und sein Revier haben", meint er.
In Mainz rühmen sich die Menschen ihrer Weinstubenkultur. Sie erzählen Geschichten, wie sie auf den Holzbänken Menschen aus der ganzen Welt kennengelernt haben. "Das sind oft Gäste, die sich auf der Straße keines Blickes würdigen würden, aber wenn sie sich an einem Tisch wiederfinden, erleben sie tolle Abende", sagt Hottum-Inhaberin Christina Röskens. Alle kämen zusammen: Studenten, Büroarbeiter, Geschäftsleute, Rentner. "Soziale Umschichtung" nennt man das in Mainz.
Die Wirtin erzählt, dass sie selbst auf der anderen Rheinseite in Wiesbaden wohne - wo das ganz anders sei. "Wenn man es da wagt, jemanden über den Tisch anzusprechen, hat man das Gefühl, der erschreckt sich zu Tode." Tatsächlich meint der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga, es sei regional sehr unterschiedlich, welche Erfahrungen Gäste beim Restaurantbesuch machten. Neben dem Ort sei auch das gastronomische Konzept wichtig.
Der Sozialpsychologe Georg Halbeisen von der Universität Trier bestätigt, dass die Gäste oft gar nicht so frei in ihrer Entscheidung seien. Stelle ein Gastronom lange Tische in den Raum oder auf die Terrasse, sei das Dazusetzen einfach. Wer jedoch nur Vierertische anbiete, fördere die Interaktion kaum. "Diesen Aufforderungscharakter darf man nicht unterschätzen. Das hat größeren Einfluss auf die Entscheidung als die persönlichen Erwartungen, die man mitbringt."
Ein besonders konsequentes Konzept verfolgt Matthias Ahlemann von der Elbtalschmiede im sächsischen Meißen. Er weist seine Gäste per Schild darauf hin, dass Tische-Teilen mit Fremden nicht erwünscht ist. Das Hotel liegt an einem Rad- und Wanderweg, hat aber gehobene Küche. "Wenn jemand gerade ein anspruchsvolles Essen für 25 Euro verspeist, dann muss ich dafür Sorge tragen, dass sich kein Radfahrer dazusetzt und seinen verschwitzten Helm auf den Tisch legt", erklärt Ahlemann. Deswegen steht bei ihm das Schild: "Liebe Gäste, das Dazusetzen an bereits belegte Tische ist bei uns nicht möglich." dpa