Nils Henkel im Tipken's auf Sylt Flora und Fauna-Magier Nils Henkel

Die Nachricht, dass Nils Henkel ein neues Restaurantkonzept auf Sylt verwirklichen würde, ließ die Gastroszene im März ordentlich aufhorchen: Der mehrfach ausgezeichnete Sternekoch zählt nicht nur zu den besten Küchenchefs Deutschlands, sondern hat vor allem das Gemüse aus dem tristen Beilagendasein auf die ganz große Bühne geholt. Das war 2008, als Henkel das Restaurant im Schlosshotel Lerbach von Dieter Müller übernahm, eine echte Sensation - und so ungewöhnlich für die Spitzengastronomie, dass ihm der dritte Stern 2011 vom damals noch auf tierische Luxusprodukte fixierten Guide Michelin vermutlich genau deshalb aberkannt wurde.

Manchmal ist jemand seiner Zeit schlichtweg zu sehr voraus - auch mit der alkoholfreien Begleitung (auf die Idee hatte ihn seine damals schwangere Frau gebracht) zum vegetarischen Menü erwies er sich als Pionier und zeigte, wie Kefire und andere Null-Prozent-Getränke die komplexe Aromatik von Kräutern, Gemüse und Früchten erst richtig zur Geltung bringen können.

Foodfotos: Gesa Noormann

Heute bietet sich in der Gastronomieszene ein komplett anderes Bild: Restaurants wie das Cookies Cream in Berlin oder das Tian in Wien halten seit Jahren ihren Stern, und auch wer nicht auf rein vegetarische Küche setzt, zieht wie das ebenfalls Michelin-prämierte Nobelhart & Schmutzig mit einer radikal regionalen und auf Gemüse fokussierenden Küche Foodies aus aller Welt an. Aber Sylt ist nicht Berlin, und die solvente Klientel der Insel nicht gerade für grüne Gesinnung und progressives Essverhalten bekannt. Warum also gerade Nils Henkel?

Foto: Axel Steinbach

Erstens sind Hoteldirektor Christian Siegling und Nils Henkel seit ihrer gemeinsamen Zeit im Schlosshotel Lerbach befreundet und wollten schon lange zusammenarbeiten: „Wir freuen uns sehr, dass wir mit Nils Henkel einen so großartigen und stilsicheren Partner gefunden haben, der die stetige Weiterentwicklung unseres Hauses nun auch in der Kulinarik auf eine neue Ebene hebt“, sagt Siegling. „Seine Philosophie, aus hervorragenden, überwiegend lokalen Zutaten überraschend beeindruckende kulinarische Genüsse zu kreieren, passt perfekt zur Philosophie des lässigen, unaufgeregten Luxus, für die das Haus bei unseren Gästen so geschätzt wird“. Passend zum neuen Konzept ist das Restaurant Tipken‘s mit Birken-Arbeiten von Fotokünstler André Wagner, die gut zur typisch friesischen Architektur des 2015 erbauten Luxushotels passen, ausgestattet worden.

Zweitens hat Nils Henkel nicht nur ein Buch über die „Flora“ geschrieben, sondern nun auch über die „Fauna“ (erscheint im Spätsommer) - vor allem die schwimmenden Lebewesen haben es dem gebürtigen Kieler angetan, selbstredend in höchster Produktqualität. Dass wir uns auf einer Nordseeinsel befinden, kommt als Inspiration für das Menü im Tipken’s gerade recht.

Das Brot stammt zwar vom Nürnberger Edelbäcker Erpel - Qualität geht auf diesem kulinarischen Niveau dann eben doch über den regionalen Inselbäcker -, dafür starten wir mit Sylter Auster (davon gibt es in List mehr als alles andere), Faröer Lachs und Küstenkräutern. Beim exzellenten gedämpften Kabeljau lebt Henkel seine Freude an verschiedenen Konsistenzen aus, wenn er den begleitenden Grünkohl sowohl gekocht als auch frittiert serviert, was überraschende Geschmacksvarianten aus dem in Norddeutschland sonst eher als verkochtem Brei bekannten Gemüse herausholt.

Das Spiel der Konsistenzen klappt auch bei der fein geschnittenen, gekochten Schwarzwurzel, die als Chip noch mehr von ihrem nussigen Aroma entfaltet. Gerösteter Wirsing sorgt für Röstaromen, Ponzu für Umami und Kalamansi (eine aus Mandarine und Kumquat gekreuzte Orangenart) für eine wunderbar exotische Säure. Der von Sommelier Bernd Ahlert, der insgesamt mit einem hervorragenden Weinpairing überzeugt, gewählte 2021 Riesling „Hommage à Luise“ von Bürklin -Wolf aus der Pfalz harmoniert mit seinem Süße-Säure-Spiel perfekt mit der Schwarzwurzel. Für mich ist sie der gelungenste Gang. Natürlich spielen persönliche Vorlieben eine Rolle, unstrittig ist dennoch, dass sich gerade bei der Zubereitung von Gemüse die Meisterschaft des Kochs oder der Köchin zeigt - und Nils Henkel ist ein leuchtendes Beispiel dafür.

Beim Flying Buffet am folgenden Eröffnungsabend bin ich nicht die Einzige, die angesichts des kunstvoll angerichteten „Frühlingsbeets“ und des wilden Blumenkohls in Tempurateig, grünem Currysud und Knobblauch in Ekstase gerät - ein Kollege meint sogar, Henkel habe noch nie so gut gekocht wie hier und heute. Bei der „Urkarotte“ holt er die ganze karamellige Süße der Mohrrübe heraus, die wunderbar mit dem cremigen Sol-Wachtelei kontrastiert - jeder Gang ist ein Gedicht und zudem in einer Schönheit komponiert, die an die Harmonie von Renaissance-Kunstwerken denken lässt. Wen wundert es, dass Nils Henkel ursprünglich Architekt werden wollte.

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Last but not least liebe ich Nils Henkels Küche auch, weil wir eine große Leidenschaft für Desserts teilen. Schon der Käsegang hat mit Fourme d’Ambert - einem französischen Schimmelkäse -, Williamsbirne und Rosmarin Dessert-Potenzial, bevor der Rhabarber, der kunstvoll drapiert von Butterkeks, Limone und Estragon begleitet wird, ein gekonntes Spiel aus Süße und Säure auf Zunge und Gaumen entfaltet. Kräftige Original Beans Piura Porcelana-Schokolade dominiert das Menü-Dessert mit Sanddorn und Fichtelsud, dessen aufregende Mischung aus Aromen und Konsistenzen, Formen und Farben es zu einem wahren Geschmackskunstwerk verschmelzen lässt. Das inkludierte Überraschungsmoment besteht aus einer hyperreal nachgeformten Erdnussschale, die intensiv nach der Hülsenfrucht schmeckt, aber nicht knackt, sondern schmilzt - ein fast postmodern anmutendes Spiel. Der Knüller kommt am Schluss, wenn uns Nils Henkel mit seiner Interpretation des Caramac-Riegels Kindheitserinnerungen evoziert. So schmeckt Glück.

Foto: Axel Steinbach

Auch wenn Konzept und Rezepte  komplett von Nils Henkel stammen, bleibt er doch Küchenchef im Bingener „Bootshaus“, dem Restaurant von Jan Bollands Hotel „Papa Rhein“. Um die Qualität auch in seiner Abwesenheit halten zu können, stehen zwei junge Talente tagtäglich am Herd des Tipken’s: Henkels langjähriger Mitarbeiter René Verse, der bereits im Restaurant Burg Schwarzenstein und im Bootshaus mit ihm kochte, verantwortet zusammen mit Küchenchef Uwe Benkowsky als Doppelspitze die gesamte Kulinarik des Hauses.

Um das Wohl der Gäste - nirgends ist der Service so professionell lässig wie im Severin’s - kümmern sich wie gehabt Restaurantleiterin Julia Westphal zusammen mit Sommelier Bernd Ahlert. Rundum ein tolles Team, das sicherlich auch ohne physische Anwesenheit des Meisters performen wird.

Das Tipken’s by Nils Henkel stellt nicht nur für Gäste des Severin’s Resort & Spa, sondern für die gesamte kulinarische Szene der Insel eine ausgesprochene Bereicherung dar. Vielleicht kann es den Abwärtstrend der letzten Jahre - von ehemals 10 Michelin-Sternen auf Sylt sind nur vier übrig geblieben - positiv korrigieren. Im besten Fall lassen sich hier sogar eingeschworene Fleischesser:innen auf ein vegetarisches Abenteuer ein - ansonsten gibt es neben Fisch sogar feinstes Simmenthaler Rind und garantiert kulinarische Glücksgefühle für alle.

Tipken's by Nils Henkel im Severin's Resort & Spa, Am Tipkenhoog 18, 25980 Sylt-Ost 

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