Hauptstadt-Tourismus I Wie spießig ist Berlin?

Berlin ist nicht Deutschland. Hier sind die Lebensentwürfe bunter, die Partys länger, die Regeln laxer als in Kiel oder Rosenheim. Jedenfalls sehen das viele so, andere zweifeln aber inzwischen daran. Wird Berlin zur spießigen Vorstadt? Zumindest gibt es neue Verbote und Etiketten. Und die gehen schon beim Essen los.

Wer in Berlin in ein Restaurant will, muss gut planen. Bei Sternekoch Tim Raue oder im «Neni» reservieren: logisch. Aber mittlerweile stehen die Leute auch beim Mexikaner in Kreuzberg in der Schlange. Man wird platziert wie in New York. Selbst im Falafel-Imbiss finden sich «Reserviert»-Schilder.

«Wenn ich Essen gehen will mit Freunden, rufe ich auf jeden Fall vorher an und frage, ob es ein Plätzchen gibt», sagt Robin Schellenberg (30). Er ist einer der Betreiber des Neuköllner Restaurants «Fuchs & Elster». Das bietet ebenfalls Reservierungen an. Früher undenkbar, als das Viertel noch mehr Schmuddelecken hatte. Im Clubrestaurant «Klunkerkranich» auf einem Neuköllner Parkdeck dagegen führen die Betreiber bewusst keine Liste. «Wir wollten nicht, dass so eine Art Handtuchmentalität aufkommt», sagt Schellenberg.

Es wird voller in Berlin, die Hauptstadt wächst. Und der Hype ist noch nicht vorbei. 2014 gab es die Diskussion, ob Berlin jetzt «over» sei, ob die Karawane jetzt weiter ziehe Richtung Leipzig oder Warschau. Sind die wilden Jahre vorbei? Wenn man dem Stadtmagazin «Tip» glaubt, ist «Berlin Europas Sex-Hauptstadt». Im Gorki-Theater gibt Regisseurin Yael Ronen in «Erotic Crisis» wiederum eine nüchterne Antwort: Paare und Singles stecken in der Sex-Krise.

Nicht nur im Liebesleben, auch sonst wollen unter den 3,5 Millionen Menschen in Berlin viele Fronten geklärt werden. Gerade beschwerten sich die Hundebesitzer, dass sie künftig ihre Tiere nicht mehr an die Badestellen vom Schlachtensee mitnehmen sollen. Im Görlitzer Park wuchsen die Probleme mit den Drogendealern so sehr, dass dort kein Hasch mehr geduldet werden soll. Der große Aufschrei blieb aus.

Das Lebensgefühl der Leute um die 30? Studenten der Universität der Künste haben sich einen «Salon der Spießigkeit» ausgedacht. Es ging um die «Neo-Spießigkeit» der heutigen «Generation Y». Der Salon war natürlich ein bisschen selbstironisch gemeint. Teilnehmerin Anni Kralisch-Pehlke (31) sagt: «Es ist toll, verheiratet zu sein, Sonntag morgens vor zehn schon einen Spaziergang gemacht zu haben, um dann mit Croissant und Biathlon auf der Couch rumzuhängen und sich einfach wohlzufühlen.»

Ansgar Oberholz (42) beobachtet in seinem Café am Rosenthaler Platz schon länger den Wandel der Stadt. Im «Sankt Oberholz» tummelt sich die Start-up-Szene. Die Leute mit den Laptops haben heute nicht mehr nur «Projekte», sondern verdienen Geld. Und was ist mit dem Berlin-Hype? Im Ausland hört Oberholz immer noch viele Lobgesänge. «Man will schon gar nicht mehr sagen, dass man aus Berlin ist.»

Wie geht's weiter? Ewig könnte Berlin nicht die unfertige, total billige Stadt bleiben. Aber spannend bleibe es trotzdem, findet Oberholz. Orte gebe es noch genug. Vielleicht 2020 nicht in Berlin-Mitte, sondern weiter draußen, in den alten Industriehallen von Oberschöneweide oder Pankow-Nord.

Verena Siegel, Inhaberin eines Ladens mit Wohnaccessoires im Graefe-Kiez, dagegen glaubt weiter an Kreuzberg, die Wiege der Alternativen. «Die Spießer ziehen nicht hierher, weil hier so viele Türken leben», meint die 56-Jährige, die seit 1981 in Berlin lebt und sich noch gut an die Hausbesetzer-Zeit erinnert. Vieles sei nicht neu in der Spießigkeit-Diskussion. «Schon in den 80er Jahren sind die Leute nach Friedenau gezogen, wenn sie Kinder bekommen haben, weil sie nicht wollten, dass die in Kreuzberg aufwachsen.»

Ihr Lebensgefährte Pete Stanness (46) - ein Brite, der länger in London lebte und seit drei Jahren in der Hauptstadt wohnt - macht sich ebenfalls keine Sorgen. «Berlin ist die freieste und offenste Stadt in Europa», findet er. Sollten die Leute ruhig Tische reservieren - «der wahre Spießer ist doch der, der reinkommt und darauf besteht, einen Tisch zu bekommen, wenn alles voll ist.»

Bleibt Berlin also cool? In jedem Fall gelassen. Eines der vielen Graffiti in Neukölln lautet: «Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.» dpa

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