Island vs Frankreich Isländer glauben an EM-Titel

Von Hallgrímur Indridason und Julia Wäschenbach

Styrmir Gíslason hält das Kribbeln, das er im ganzen Körper spürt, fast nicht mehr aus. In der Nacht vor seinem Flug nach Paris zum EM-Viertelfinale gegen Frankreich bekommt der Isländer kein Auge zu. «Ich kann es nicht erwarten, dorthin zurückzukommen», sagt er. Bei allen Spielen bis auf das Achtelfinale gegen England hat der Gründer der Fangruppe Tolfan seine Mannschaft im Stadion angefeuert. Jetzt will er Island mit den anderen Fans ins Halbfinale brüllen. Schafft der Fußballzwerg an diesem Sonntag (21.00 Uhr/ZDF) im Stade de France in Saint-Denis noch eine Sensation?

Klare Sache, wenn es nach Gíslason geht: «Frankreich hat auf dem Papier die großen Namen und all das. Aber ich denke, es kommt auf das Herz und den Willen an. Und der ist auf der Seite der Isländer.» Um ihre Jungs live zu sehen, hoffen etliche seiner Landsleute, noch einen Flug nach Frankreich zu erwischen. Dafür nehmen manche nicht nur horrende Ticketpreise auf sich, sondern auch wahre Odysseen.

Andere hatten ganz einfach Glück. Der Koch Sveinn Saevar Frimansson aus Akureyri ergatterte vor einem Jahr Tickets für genau dieses Viertelfinale. Der Fußball sollte aber nur schöne Nebensache sein. «Mein Hauptanliegen war, den Ursprung der Bearnaise-Sauce zu finden und in einem Restaurant in Paris zu essen, wo sie zuerst serviert wurde», sagt Frimansson. Nun sei plötzlich das EM-Spiel zum Highlight der Reise geraten: «Die Bearnaise-Sauce verliert gegen den Fußball.»

Auch Super-Fan Gíslason ist ein Platz im Stadion sicher. Die isländischen Fluglinien spendieren ihm und 21 anderen Tolfans nicht nur die Flüge, sondern auch Hotels - denn ohne die wilden Trommler wäre in der Islandkurve nichts los. 8000 Isländer werden am Sonntag im Stadion sein. Lärm machen werden sie garantiert, als wären es 80 000. «Das Motto von Tolfan ist: Wir sitzen nie, und wir ruhen uns nie aus», sagt Gíslason. «Egal, wie es steht, wir singen und schreien 90 Minuten lang. Das ist wahrscheinlich der Wikinger in uns.»

Der 37-Jähre hegt keinen Zweifel, dass das bei den Spielern ankommt. «Nachdem wir mit dem Wikinger-Gebrüll angefangen haben, hat das Team fantastisch gespielt», sagt er. Weil Island so klein ist, kennt auch fast jeder einen der Spieler persönlich. Was in Deutschland undenkbar scheint, ist in der Inselrepublik ganz normal: Wenn die Tolfans eine Party feiern, kommt Kapitän Aron Gunnarsson schon mal spontan auf ein Bierchen vorbei.

Der Mann, der mit seinem strubbeligen Vollbart und den Tätowierungen bei dem Wikinger-Siegesritual («Hu! Hu! Hu!») den Ton angibt, ist einer von vielen Gründen, weshalb die Isländer die Herzen der EM-Zuschauer in den vergangenen Wochen im Sturm erobert haben. Zwei andere sind der sensationelle Kampfgeist und das Selbstvertrauen der Fußballzwerge. «Das ist das Verrückte an uns Isländern», sagt Gíslason. «Wir denken nie, dass wir die kleine Nation sind, die verlieren wird. Wir denken immer, dass wir gewinnen können.»

Nach dem Achtelfinal-Sieg gegen England hat das EM-Fieber jeden auf der Nordatlantikinsel gepackt. Den Laden in Reykjavík, in dem Gíslason in diesen Tagen ausschließlich im blauen Island-Trikot arbeitet, betritt gerade kein Kunde ohne ein Lächeln auf dem Gesicht. «Die Stimmung hier ist unglaublich. Es gibt Leute, die nie Fußball geguckt haben, aber heute riesige Fußballfans sind.»

Während etliche Isländer sich spontan auf den Weg nach Paris gemacht haben, genießen andere die Atmosphäre auf der Insel. «Viele wollen bleiben und die isländische Luft einatmen und das Spiel gemeinsam in Reykjavík sehen», sagt Gíslason. Die Stimmung in der Hauptstadt ist angespannt, die Isländer sind hibbelig. Manche Tolfans schreien vor dem Spiel zu den nordischen Göttern. Das soll Glück bringen. Gíslason trägt seit dem Start des Turniers ein Armband als Glücksbringer. Es müffelt schon, sagt seine Frau. Aber sie darf es nicht waschen.

Egal, wie das Spiel am Sonntag ausgeht, einen Gewinner gibt es schon: den isländischen Tourismusverband. Durch das EM-Märchen der bislang unbesiegbaren Wikinger interessiert sich jeder plötzlich für die kleine Inselrepublik im wilden Norden. In Frankreich fühlen sich die Isländer wie Rockstars. «Jeder ruft: «Islaaand!», und alle wollen einen umarmen», sagt Gíslason. Das gibt den Wikingern auf den Rängen noch mehr Ansporn. Der EM-Titel scheint plötzlich zum Greifen nah.

Am Montag aufzuwachen und ausgeschieden zu sein, wäre deshalb für jeden Tolfan bitter. Dass ihr Fußballmärchen dann zu Ende ist, glaubt aber keiner. «Das ist wieder der isländische Wahnsinn: Wir gehen davon aus, dass wir, jetzt wo wir es einmal geschafft haben, es immer wieder schaffen können», sagt Gíslason. «Die Leute fangen schon an zu überlegen: Sollten wir zur Weltmeisterschaft nach Russland reisen?» dpa