Kultur in Wiesbaden Nizza des Nordens

Von Francoise Hauser

Das Wasser des Kochbrunnens kommt 66 Grad heiß direkt aus dem Erdreich. Es verbreitet einen schwefeligen Geruch und schmeckt entsprechend. Kaum zu glauben, dass die Wiesbadener Kurgäste noch vor 150 Jahren bis zu vier Liter täglich davon tranken.

Um die Gesundheit ging es damals eher weniger. Das Motto der Kurgäste lautete: sehen und gesehen werden.

Sogar diverse Kaiser kamen nach Wiesbaden, der Opernstar Enrico Caruso (1873-1921) verbrachte hier seine Ferien. Schriftsteller Dostojewski (1821-1881) verspielte im örtlichen Kasino sein Hab und Gut und ließ sich nebenbei zu seinem Roman «Der Spieler» inspirieren. Und das sind nur einige der Berühmtheiten, die sich hier die Klinke - oder eher den Wasserbecher - in die Hand gaben.

Wo es zischt und brodelt

Wer heute Wiesbaden besucht, sollte genau dort den Rundgang beginnen: mitten in der Stadt am Kochbrunnen und dem wenige Meter weiter liegenden, mit roten Sinterablagerungen bedeckten Kochbrunnen-Springer. Übersehen kann man beides eigentlich nicht, schon gar nicht im Winter, wenn nicht nur die Brunnen vor sich hin dampfen, sondern auch die vielen Kanaldeckel des Viertels.

Gleich 26 heiße Quellen hat die Stadt, und der Kochbrunnen bündelt gleich mehrere von ihnen. Rund 20 000 Liter sprudeln hier stündlich aus den Messinghähnen. Funktional genutzt wird er auch noch: Immer wieder kommen Anwohner mit Plastikkanistern vorbei, um sich von der salzigen Brühe abzufüllen. Lohnt sich das? Wirkt es denn?

Um die Kraft des Brunnens und seine Wirkung auf die Stadt zu sehen, muss man nur den Blick heben. Rund um den Kranz- und Kochbrunnenplatz strotzt die Stadt nur so von Grandeur: Hier liegen der «Schwarze Bock», das wahrscheinlich älteste Hotel Deutschlands aus dem Jahr 1486, das alte «Hotel Rose» - heute die Hessische Staatskanzlei - und das «Palasthotel», in denen einst die illustren Kurgäste residierten.

Caruso soll hier eines Nachmittags spontan ein kleines Konzert vom Balkon aus gegeben haben. Etwas weiter nördlich stehen die Kur-Kolonnaden, wo die Kurgäste vor Wind und Wetter geschützt den heißen Trunk aus dem Brunnen zu sich nahmen und publikumswirksam flanierten. Und das ist erst der Einstieg.

In der Taunusstraße, die am Kochbrunnenplatz beginnt, übertrifft sich die Stadt noch einmal mit Monumentalbauten, in denen heute besonders viele Antiquitätenhändler allerfeinste Waren anbieten.

Wie Wiesbaden zu Reichtum kam

Breite Boulevards, gesäumt von Prachtbauten aus dem 19. Jahrhundert, sind fast überall typisch für Wiesbaden. Fast als gäbe es keine Geschichte davor. Bekannt ist der Ort allerdings schon lange.

Bereits die Römer erwähnten die Aquae Mattiacorum, die «Wasser der Mattiaker», den lokalen germanischen Stamm, und ließen hier wohl eine Badeanlage errichten. Das heutige Wiesbaden freilich wird erst im frühen Mittelalter als Wisibada erwähnt. Über die Jahrhunderte brachten die heißen Quellen der Siedlung offenbar immer wieder Gäste und einen bescheidenen Wohlstand.

Die ganz große Glanzzeit der Stadt brach 1806 an, als Wiesbaden nicht nur zum Regierungssitz der Nassauer wurde, sondern gleichzeitig auch der moderne Gesundheitstourismus einsetzte.

Innerhalb weniger Jahre verwandelte sich Wiesbaden in die «Weltkurstadt», wie es sich fortan nannte. Dass es 1866 Teil Preußens wurde, erwies sich sogar als förderlich. Auch Kaiser Wilhelm I. und II. kurten nun hier. Letzterer traf sich 1903 in Wiesbaden sogar mit Zar Nikolaus II. Das gab dem Image der Stadt ordentlich Auftrieb.

Auch sonst liest sich die Liste der prominenten Gäste wie ein Who is Who der Kultur: Thomas Mann war in Wiesbaden genauso Gast wie Goethe, Brahms, Wagner, Liszt, Strawinsky, Balzac, Kaiserin Sissi und viele andere. Passend dazu setzte ein Bauboom ein. So entstanden ganze Straßenzüge voller imposanter Bauten im Stil des Historismus, wuchtige mehrstöckige Gebäude mit einer dicken Schippe Romantik, Gotik oder gar barocken Verzierungen.

Gleichzeitig zeigte sich Wiesbaden fortschrittlich: Bereits 1840 wurde die Eisenbahnverbindung nach Frankfurt am Main eröffnet, 1848 die städtische Gasbeleuchtung eingeführt, 1882 erstmals der Kursaal elektrisch beleuchtet.

Von 1904 bis 1907 errichtet man auf Wunsch Kaiser Wilhelms II. an der Wilhelmstraße das prächtige neue Kurhaus in klassizistischem Stil, in dem man sich heute wieder um Kopf und Kragen spielen kann. Sehenswert ist der historische Saal aber auch ohne Geldeinsatz.

Natürlich gab es in Wiesbaden nicht nur Schöne und Reiche. Wer wissen will, wie die vielen Bediensteten und Zulieferer lebten, muss von der Taunusstraße in die parallel verlaufende Nerostraße abbiegen. Oder den kleinen Hügel herauf ins Bergkirchenviertel herauflaufen. In den sogenannten Katzelöchern wohnte es sich weitaus beengter.

Plötzlich war Schluss mit lustig

Mit dem Ersten Weltkrieg war der Spaß vorbei. Wiesbaden blieb zwar Kurstadt, doch die Zeit des kaiserlichen Pomps fand ein jähes Ende. 1918 zog der Arbeiter- und Soldatenrat ins Stadtschloss, nur wenige Monate später wurde Wiesbaden von französischen Truppen besetzt und stand danach von 1925 bis 1930 unter britischer Besatzung.

Auch die Weltwirtschaftskrise hinterließ ihre Spuren - und nicht lange später der Zweite Weltkrieg. Dass all der Glanz des 19. Jahrhunderts heute dennoch existiert, liegt nicht zuletzt daran, dass Wiesbaden zwar lange Zeit glamourös, aber politisch nicht wirklich wichtig war. Im Zweiten Weltkrieg kam man glimpflicher davon.

Außerdem munkelt man, die Amerikaner hätten das lauschige Wiesbaden bewusst verschont, um dort ihr Deutschland-Hauptquartier einzurichten - was sie de facto auch taten. Bis heute sind nirgendwo auf der Welt dauerhaft so viele US-Soldaten stationiert wie in Wiesbaden. Auch die Berliner Luftbrücke von 1949 wurde von hier aus koordiniert.

Flanieren auf «der Rue»

In Wiesbaden gibt es noch mehr zu sehen als heiße Quellen und fette Villen. Natürlich lohnt sich ein Gang durch die Innenstadt. Zum Beispiel über die pompöse Wilhelmsstraße, von den Einheimischen liebevoll «die Rue» genannt. Bis heute ist es eine Straße der Reichen und definitiv kein Ort für Schnäppchenjäger.

Auch lohnt der Schlossplatz mit der Roten Marktkirche aus dem Jahr 1862, das höchste Gebäude der Stadt. Und das Stadtschloss der Herzöge von Nassau, in dem heute der Hessische Landtag sitzt.

Dass Wiesbaden nur eine vergleichsweise kleine Altstadt besitzt, mag überraschen. Große Brände vernichteten im 16. Jahrhundert mehrfach die Stadt. Kein Wunder, dass das älteste Stadthaus, das Cetto-Haus in der Wagemannstraße, gerade einmal aus dem Jahr 1728 stammt.

Das «Schiffchen», wie die Einheimischen die Altstadt dank ihrer Form nennen, ist trotzdem sehenswert. Und sei es nur, um in einem der Restaurants der Goldgasse ganz mondän draußen einen Kaffee zu trinken. Das geht auch im Winter, mit Heizstrahler.

Wiesbaden von oben

Für den ganz großen Überblick muss man raus aus der Stadt. Wer gut zu Fuß ist, erledigt das in einem gut einstündigen Spaziergang über die Taunusstraße gen Nordosten. Im Nerotal wartet die Endhaltestelle der Nerobergbahn auf den Neroberg, Wiesbadens Hausberg. 1888 wurde sie als Wasserballast-Bahn gebaut.

Bis heute funktioniert das mittlerweile historische Technikdenkmal auf sehr einfache und findige Art: Oben auf dem Berg wird die Bahn mit rund 7000 Litern Wasser beladen und zieht so auf dem Weg bergab eine zweite Bahn bergauf. Im Winter ist sie daher nicht in Betrieb. Aber die 83 Meter Höhenunterschied sind gut zu bewältigen.

Oben angekommen gibt es nicht nur einen wunderbaren Blick über die Stadt, sondern auch eine Hand voll Sehenswürdigkeiten. Das Opelbad im Bauhausstil, eines der ersten Freibäder Deutschlands, besticht mit einem wunderbaren Ausblick. Und saftigen Preisen.

Die goldenen Dächer der Russisch-Orthodoxen Kirche blitzen schon nach wenigen Metern durch das Laub der Bäume. Herzog Adolph von Nassau ließ die Grabkirche in Gedenken an seine junge Ehefrau erbauen, Prinzessin Elisabeth Michailowna, Großfürstin von Russland. Bei der Geburt des ersten Kindes war sie gestorben.

Dass die goldenen Kuppeln so arg blitzen, ist dem Besuch Putins 2007 zu verdanken. Zu diesem Anlass wurden sie neu poliert - auch wenn die Arbeiten viel zu lange dauerten und der russische Präsident nur das eingerüstete Bauwerk zu Gesicht bekam.

Hat man noch nicht genug imposante Bauten gesehen, kann auf dem Rückweg ins Nerotal noch einmal nachlegen: Wer im 19. und frühen 20. Jahrhundert genug Geld mitbrachte, ließ sich in Wiesbaden gleich eine Villa bauen. Nirgendwo sonst in Deutschland findet sich ein so großes zusammenhängendes historisches Villengebiet wie hier. dpa

Informationen: Tourist Information, Marktplatz 1, 65183 Wiesbaden (Tel.: 0611/17 29 703, www.tourismus.wiesbaden.de