Meine wilden Inseln von Anja Mazuhn Grande Dame in Gummistiefeln

Sie war aber auch liebe Freundin; ehrlich, lustig, bodenständig, voller Empathie. Wir haben gebacken, gekocht, mit den Eltern Geburtstage gefeiert. Irgendwann hat sie auch geheiratet, hieß dann Mazuhn. Ja, also: Wo eigentlich ist die Anja? Auf einmal war sie weg.

Die Antwort kam letzten Samstag. Ich kam gerad von Markt bei mir auf dem Chamissoplatz. "Ein Umschlag, Herr Elfenbein", rief der Postbote. Ich rieß den Umschlag noch beim Quasseln vor der Haustür auf, darin ein Buch: "Meine wilden Inseln" von Anja Mazuhn, auf dem Cover Madame höchstpersönlich - in Retro-Schlabberwollpullover, mit windverzausten Haare und jugendlich strahlelndem Honigmond-Lächeln. Ein Zettel mit einem Smily drauf, liegt bei. Ich stelle die Einkaufstasche hin... blättere, lese:

"Ich ziehe die lockere Wolldecke am Hinterteil des Tieres so weit wie möglich hoch, steche die Schere vorsichtig in den mit Schafdampf gefüllten Zwischenraum hinein, fahre gerade den Rücken entlang bis zum Hals und schneide anschließend die Seiten und um den Kopf herum," steht da... und: "Die meisten der Schafe, die auf meinem Tisch landen, haben anfänglich nicht die geringste Lust, stillzuhalten. Auf dem kniehohen, kotverschmierten Holzpodest vor mir hocken sie wie Bullen beim Rodea, knurren, werfen sich auf den Bauch oder versuchen, den Riegel der zweigeteilten, ovalgeschnittenen Holzplatte aufzuschieben, in der ihr Kopf steckt"...

Ich lese weiter, setze mich im Hof auf einer Treppenstufe in die Sonne, angele ein Stück Marienhöher Leberwurst aus der Einkaufstasche, blättere um:

"Meine Jeans, die am Knie gerissen ist, mein heute früh noch dunkelblauer und nun mit wollweißen Fusseln übersäte Fleecepullover, die Uhr, die ich trage, meine mit einem ausgeleierten Frotteehaargummi zusammen gebundenen Haare: Alles riecht nach Schaf... eine Stunde später greife ich nach dem letzten Schaf. Zum letzten Mal an diesem Tag wate ich durch Schlamm, Schafkot, und durchweichte Büschel gekräuselter Schafwolle. Mit dem Wasserschlauch am Pferch spüle ich meine Gummistiefel ab und werfe sie auf die Ladefläche vom Wagen. Die 500 Meter zum Haus fahren wir mit dem Auto. Mit steifen Bewegungen ziehe ich mir die verdreckte Kleidung aus und gehe unter die Dusche."

Anja Mazuhn alias Popovic, meine alte Freundin Anja, schert Schafe, ist Schafschererin, -züchterin, -flüsterin und hat Frotteehaargummis im Haar, denke ich - und - Tiere liebte sie immer schon. Die Inseln, das sind - weit weg von Glamour - die Faröer mitten im Nordatlantik. Mit einem Kissen unter den Ellbogen habe ich es mir mittlerweile auf meinem Wohnzimmerboden bequem gemacht und lese im Buch. "Meine wilden Inseln" ist kein Reisebuch, kein Reisebericht. Lust- und liebevoll und dabei ungeschönt beschreibt sie die Menschen, Landschaften ihrer neuen Heimat, die mächtige Natur, ein Bad alleine und nackt im klaren Bergsee oder auch Faröer Küche wie Dorschkopf mit Rhabarbersuppe, Lachskuchen, gekochtes Grindwalfleisch mit Pellkartoffeln, geschmorte Troddellumme. Bei einem Besuch im gefeierten Foodie-Restaurant KOKS mit Beziehungen zum Noma isst sie rohe Muscheln, Rentierflechte und Algenmousse mit fermentierten Blaubeeren... und muss an einst, ihr Berliner Leben, denken:

"Bono von U2 klettert im Borchardt nachts um halb eins auf eine Sitzbank und küsst George Clooney ab: Ich bestelle gerade Wiener Schnitzel. Champagnerparty im Mitte-Stadthaus eines Investors und Kunstsammlers; Ich inspiziere seine Rauchs, Richters und den Wasserfall im Entree. Modredesigner Emanuel Ungaro, schwarzes Cordjackett, pinkfarbenes Einstecktuch, rote Schuhe, bittet zum Lunch ins Adlon: Ich sitze mit am Tisch," schreibt sie - und eine Seite weiter: "Ich rufe Schauspielerinnen an und frage, ob sie schwanger sind. Ich schreibe das Anke Engelke ein bauchfreies Top mit Blumenmuster trug. Ich lasse mir von Moderatorinnen erzählen, wohin sie in Urlaub fahren. Ich rase in den Fünf-Sterne-Fitnessclub, für den ich eine goldene Mitgliedskarte habe, und jogge auf dem Laufband neben Nick Nolte." Ihr wird klar: "Ich hänge fest im Klatsch. Ich friere an roten Teppichen, habe Kopfschmerzen, bekomme Gehaltserhöhungen und warte auf Paris Hilton. Ich stehe auf Partys und weiß nicht, was ich die immer selben Leute fragen soll."

Ja, und irgendwann dann, an dem Moment, ab dem sie dann eben einfach weg war, zog sie die Reißleine, rückte Werte gerade - und machte sich mit ihrem Mann auf auf die Insel zu einem Leben unter Schafen, den echten. "Es ist inzwischen kurz vor Mitternacht, meine Haare sind nass, mein Bauch ist voller Suppe, und in meinen Händen, die immer noch nach Schaf riechen, halte ich ein Glas Rotwein". Glück könne man nicht bestellen, resümiert sie, "man muss es wagen." Also, was macht nun eigentlich die Anja?! Also, ich denke, sie ist glücklich. Auf alle Fälle, liebe Anja, bin ich stolz auf Dich! Dein Stefan

 

Meine wilden Inseln

von Anja Mazuhn

Piper Verlag, München 2022

ISBN 978-3-89029-558-9

Taschenbuch € 18