Michelin & Gault Millau Die Sterneküche im Adlon

Von Teresa Fischer

Mit einer Pinzette verpasst Hendrik Otto seinem Werk den letzten Schliff. Rundherum lärmt es wie in einer Fabrik. Geschirrwagen nehmen scheppernd Fahrt auf, es zischt und dampft. Nur in der Mitte des gefliesten Raums, an einer Theke aus dunklem Granit, läuft alles wie in Zeitlupe. Hendrik Otto beugt sich über einen riesigen weißen Teller. Eingehend betrachtet er unter der Wärmelampe das kleine Stück Stör im Teller.

Vorsichtig setzt der Koch mit seiner Pinzette Kapern und winzige Kräuter-Blättchen auf den Fisch. Aus einem Fläschchen drückt er leuchtend rote Kleckse auf den Stör, daneben legt er ein paar Körnchen Kaviar. Langsam wächst das kunstvolle Gebilde in die Höhe. Stirnrunzelnd betrachtet er sein Werk. Mit der schaumigen grünen Soße, die herrlich nach Räucherspeck schmeckt, ist Hendrik Otto nicht zufrieden. «Noch mehr Bohnen rein», ruft der Küchenchef des «Lorenz Adlon Esszimmer» und legt den Löffel beiseite.

260 Euro kostet in dem Restaurant im Berliner Hotel Adlon das Sechs-Gang-Menü mit passendem Wein. Den Blick auf das Brandenburger Tor gibt es kostenlos dazu. Altbundeskanzler Gerhard Schröder, Microsoft-Gründer Bill Gates oder Hollywood-Star Matthew McConaughey saßen schon hinter der schweren Holztür in dem heimeligen Raum mit etwa 30 Plätzen. Für sein Essen hier zeichnete der Restaurant-Führer Michelin Hendrik Otto mit zwei Sternen aus, sie stehen für eine «hervorragende Küche, die einen Umweg verdient». Die Bewertung bedeutet illustre Gäste, hohe Ansprüche. Und sie bedeutet Druck.

In Berlin ist die Dichte der Sterne-Restaurants seit einiger Zeit besonders hoch. Hier haben zum Beispiel auch Tim Raue, Christian Lohse, Daniel Achilles und Michael Kempf ihre Küchen.

«Es ist ein Wettkampf hier, jeden Tag», sagt der 40-Jährige. Er hat die Pinzette gegen eine Art Pizzaschaufel getauscht und rührt mit aller Kraft in einem Becken voller Bouillabaisse. Der Duft von Thymian steigt auf. «Diese Sterne-Geschichte ist für Köche etwas, das sie weiterbringt und Aufmerksamkeit bringt.»

Etwa zweimal im Jahr sitzen anonyme Testesser unangemeldet im Restaurant. Anfang November veröffentlichen die wohl bekanntesten Führer, der Guide Michelin und der Gault Millau, ihre Bewertungen. «Wir performen das ganze Jahr gut, und an dem einen Tag sitzt dann der Tester draußen», beschreibt Otto den Druck, der auf dem ganzen Team lastet. Leerlauf oder schlechte Momente können sie sich nicht leisten. «Das ist brutal.»

Der blonde Mann mit dem freundlichen, runden Gesicht redet schnell, wie ein Feuerwerk schießen die Wörter aus seinem Mund. Regelmäßig muss er neue Kreationen auf den Teller bringen. «Du weißt, du musst Minimum das gleiche Produkt - wenn nicht ein besseres - hinbekommen.» Da lasse die Kreativität manchmal nach. Dennoch liebt er seinen Job. «Wenn ich da nicht meine Befriedigung draus ziehe, würde ich das nicht machen.»

Die Leidenschaft des Starkochs hat praktische Wurzeln. Bei der Wende ist Hendrik Otto, das «Kind aus dem Osten», gerade 14. Rund um die Heimat in Sachsen-Anhalt gehen die Betriebe kaputt. Der Vater, ein Agraringenieur, hält dem Jungen erste Berichte über Starkoch Alain Ducasse unter die Nase. Gegessen werde immer, sagt er, und auch in diesem Beruf könne man erfolgreich sein. «Er wollte, dass ich im Leben was sehe und ein bisschen rumkomme», sagt Otto und rührt in der Bouillabaisse.

Er wird auf einem Bauernhof groß. «Ich wusste wie es dazu kommt, dass das Schnitzel auf dem Teller landet.» Die Eltern halten Damwild, Kaninchen und Hühner. Es wird selbst geschlachtet und Schinken gemacht. Die Mutter schmort Tauben und setzt Holundersaft an. Er habe immer noch den Geschmack von Beeren und Mirabellen aus seiner Kindheit im Mund, sagt Otto. Die Liebe zu selbst gemachtem Essen ist geblieben, über Back-Ketten regt er sich auf. Otto erzählt vom Besuch in einer Eisdiele und gerät ins Schwärmen. Über die frisch geschlagene Sahne und das reife Obst im Eisbecher.

Hendrik Otto ist Mitte 20 als der Michelin seine Kreationen zum ersten Mal mit einem Stern auszeichnet. «Ich war überwältigt von der Aufmerksamkeit und der Presse.» Der Vater sammelt stolz Zeitungsausschnitte. Otto kocht in Hamburg, Baden-Baden, Köln. «Mit 30 wollte ich Küchenchef sein. Das war ich dann mit 27.» Ein herber Rückschlag kommt 2009: Das Restaurant «Vitrum» im Hotel Ritz-Carlton, in dem Otto Küchenchef ist, macht dicht.

Seit vier Jahren steht Otto jetzt in der Küche des «Lorenz Adlon Esszimmer» im Hotel Adlon Kempinski. Der Restaurantführer Gault Millau zeichnet sie mit 18 Punkten aus. «Die Küche des sympathischen Chefs Hendrik Otto ist detailverliebt und sehr verspielt», schrieb ein Kritiker 2013. Nicht immer ist der Gault Millau so wohlwollend. Über andere Restaurants wird auch mal hergezogen.

In der Küche schiebt sich Hendrik Otto eine Tomate in den Mund und nickt. Fünf verschiedene Sorten hat der Sternekoch versucht, diese ist in Ordnung. Allein der Warenbestand des Restaurants ist etwa 20 000 Euro wert, die Küche hat einen eigenen Kräutergarten. «Jeder Baustein ist perfekt.» Geschmack und Optik müssen stimmen, deswegen kontrolliert Otto die Gerichte, bevor sie dem Gast vorgesetzt werden.

So gehen Teller mit geschmorten Rippenstücken vom Nebraska-Rind, Creme-Eis von Lorbeer oder Wachtelessenz noch einmal zur letzten Prüfung durch seine Hände, bevor sie draußen auf den edel gedeckten Tischen landen. Die Gäste sollen über das Essen sprechen und sich Gedanken machen. «Das ist wie ein Opernbesuch.» Mittlerweile kocht er aber nicht mehr jede Soße selbst. «Früher war für mich alles Chefsache. Da habe ich umgedacht.»

Glänzende Sektkühler stehen wie Pokale aufgereiht auf einem Regal über den Köpfen des Küchenteams. Ein junger Koch taucht tiefgekühlte Kirschen in Gelee und reiht die glänzenden roten Kugeln vorsichtig nebeneinander auf. Sie zerplatzen im Mund und geben einen intensiven Fruchtgeschmack frei. Sein Kollege rollt Zitrone-Salbei-Gnocchi. Pro Portion werden fünf Stück der italienischen Kartoffelkügelchen mit einem knusprigen Netz aus gebratenem Parmesan als Sättigungsbeilage serviert. «Das ist nicht viel», sagt er fast entschuldigend. Aber es gehöre ja zu einem Acht-Gänge-Menü.

Zehn junge Köche arbeiten in Hendrik Ottos Team, er hat jeden von ihnen ausgesucht. Sie kommen aus Brandenburg, Schwaben, Bayern oder Österreich. «Diese Mannschaft ist immer mit mir da. Das ist wie ein Fußballteam», sagt Otto. «Ich sehe mich als Trainer.» An einer Wand hängt ein riesiges Foto der Mannschaft. Alle tragen Kochmützen und weiße Oberteile und lächeln in die Kamera, in der Mitte lehnt Hendrik Otto auf dem blank polierten schwarzen Tresen.

Die Arbeit schweiße sie zusammen, sagt Jens und gießt vorsichtig zerlassene Butter über Selleriescheiben. «Jeder hier hat sich bewusst darauf eingelassen», sagt Lukas und wickelt Brot in Plastikfolien. «Wir haben alle den gleichen Druck.» Sie sind stolz, hier zu kochen. Auch wenn der Job Gift ist für das Privatleben. Arbeiten bis in die Nacht, das Wochenende beginnt erst am Sonntag.

Zum Mittagessen gehen die Köche in die wenig glamouröse Kantine im Untergeschoß. Auf einer Warmhalteplatte liegen Schnitzel und labbrige Kartoffelecken. Nach dem Essen zündet sich Hendrik Otto draußen eine Zigarette an. Es ist kalt, Otto wirkt blass. Um den Hals hat er eng einen Schal geknotet. «Ich liebe meinen Beruf, der hat einen ganz hohen Stellenwert, aber dafür muss ich viel zurückstellen.»

An seinem freien Sonntag frühstücke er lange mit seiner Frau. Auf den Tisch kommt dann der Hefezopf vom Bäcker. Aber auch in der Freizeit sei die Suche nach Geschmack immer im Hinterkopf, sagt Otto und erzählt von geschmortem Spanferkel mit Kichererbsen im Urlaub. «Wenn ich spazieren gehe und sehe eine Apfelsorte, sofort, zack, Alarmglocke an.» Was er sagen würde, wenn seine Tochter einmal Köchin werde möchte? «Auf keinen Fall», ruft Otto und lacht. dpa

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