Rio und Salvador vor der WM 2014

Von Michael Juhran

Was mag er wohl denken, der 30 Meter hohe Christus, wenn sich am frühen Morgen die Besucher in großen Reisebussen und auf knatternden Motorrädern Rios Pilgerberg Corcovado hinaufquälen? Wahrscheinlich wird ihm bereits jetzt vor dem zu erwartenden Ansturm im nächsten Jahr zur Fußball-WM etwas bange.

Seit 1931 blickt er von seinem 700 Meter hohen Felsen auf die Stadt hinunter und genießt die Aussicht auf die Strände von Copacabana und Ipanema, auf die Altstadt, das Maracana-Fußballstadion, in dem am 13. Juli 2014 das WM-Endspiel ausgetragen wird, und den Zuckerhut.

Manchmal würde er dabei sicher ungläubig den Kopf schütteln, wenn beispielsweise das Fußballspielen am Strand verboten wird oder sich einmal mehr die Verkaufsformalitäten für den Eintritt zum Gipfel des Corcovado geändert haben. Viel Zeit zum Nachdenken bleibt ihm nicht, denn schon eilen die ersten Touristen die letzten 215 Treppenstufen hinauf, um sich in Nachahmerpose mit ausgebreiteten Armen vor ihm fotografieren zu lassen oder um den besten Platz auf der kleinen Aussichtsplattform zu ergattern.

Für einige dieser Besucher, die etwas mehr Gewicht mit sich herumtragen, sind die Treppen eine echte Herausforderung. Aber es geht auch einfacher: Nur wenige Meter vom Shuttle-Parkplatz entfernt überbrückt ein Fahrstuhl die Höhendifferenz, und die letzten Meter zur Christus-Statue lassen sich dann mit Hilfe zweier Rolltreppen mühelos bewältigen. Christus wirkt wie ein Magnet.

74 Prozent der Brasilianer sind katholischen Glaubens, und da gehört ein Besuch einfach dazu. Aber ein Foto vor einem der «Neuen sieben Weltwunder» ist auch bei ausländischen Touristen ein beliebtes Reiseandenken, das man gern mit in die Heimat nimmt und im Rahmen einer Diashow Verwandten und Freunden zeigt.

Schaut man etwas genauer hin, kann man von der Aussichtsplattform auch eine andere Seite Rios entdecken: die Favelas, die sich vorwiegend an die Berghänge am Rande der drittgrößten brasilianischen Metropole schmiegen. Es sind die Armenviertel, einstige Tabuzonen, die jahrzehntelang von Drogengangs regiert wurden, sich jetzt aber vorsichtig Zug um Zug dem Tourismus öffnen.

Genau in der Blickrichtung der Christus-Statue, auf einem steilen Berghang zwischen Copacabana und Botafogo, liegt die Favela Babilonia. Auch sie gehörte einst zum Herrschaftsbereich des «Dritten Kommandos» der Drogenhändler, die die Einwohner terrorisierten. 1997, vor dem damaligen Besuch des Papstes in Rio, kam es zu einem ersten Polizeieinsatz gegen die bewaffneten Drogengangs in Babilonia, im Jahr 2009 nahm die Polizei die Favela ein. Seit einigen Jahren hat nun beispielsweise der Berliner Südamerikaspezialist Viventura eine geführte Tour durch diese Favela fest im Programm.

Deisej und Marcelo aus der 3400 Einwohner umfassenden Kommune führen gemeinsam mit Monika, der deutschen Reiseleiterin, durch ein Viertel, in dem es 2008 noch zu Schusswechseln kam. «Vor vier Jahren schickte die Regierung ein Friedenpolizeicorps der UPP in unsere Favela, und heute gehört sie zu den sichersten in Rio», begrüßt Deisej die deutschen Gäste. Bereits vor 15 Jahren starteten die Bewohner ein anderes aufsehenerregendes Projekt. «Wir wollten es einfach nicht mehr hinnehmen, dass unsere mühsam errichteten Behausungen Erdrutschen zum Opfer fallen», beschreibt Deisej die damalige Aufbruchstimmung.

«Einer hatte die Idee, die Erdoberfläche auf dem Bergrücken zu befestigen, indem man den fast vollständig abgeholzten Regenwald wieder aufforstet.» 200 000 Bäume wurden seitdem gepflanzt - eine ganze Reihe von Monika und deutschen Touristen - das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Die Favela Babilonia gehört heute neben der durch Michael Jacksons Video «They don't care about us» bekanntgewordenen Favela Santa Marta zu den Vorzeigeobjekten in Rio. Ein dichter Regenwald mit unzähligen Baumarten bedeckt die Bergkuppe. Vom Gipfel eröffnen sich grandiose Blicke auf den benachbarten Zuckerhut, auf die Copacabana zur Rechten und Botafogo zur Linken. Alle Bewohner der Favela verfügen heute über Elektrizität und Leitungswasser, die Kinder tollen auf ihrem neuen Spielplatz herum, und es gibt eine Schule. Geführte Touristengruppen werden hier gern gesehen. Deisej vermietet bereits ein Zimmer an ausländische Gäste, die vorwiegend aus Europa kommen.

Schlendert man bei Tageslicht die Copacabana entlang, ergötzt sich an den Aussichten vom Zuckerhut, probiert Karnevalkostüme im Sambodromo oder kämpft sich durch die Altstadt und genießt seinen Kaffee in der ehrwürdigen «Confeitaria Colombo», so kann man sich kaum vorstellen, dass in Rio noch immer Drogengangs ihre Rivalitäten mit Waffengewalt ausfechten. Doch bereits beim Besuch des Künstlerviertels Santa Teresa lässt man angesichts zwielichtiger Gestalten eine gesunde Vorsicht walten.

Und an der mit bunten Fliesen aus über 150 Ländern verzierten Treppe des chilenischen Künstlers Jorge Selarón muss man erfahren, dass die Leiche des im In- und Ausland populären Künstlers hier vor zwei Jahren verkohlt aufgefunden wurde. Niemand will so recht an Selbstmord glauben. Manche Cariocas, wie sich die Einwohner Rios selbst nennen, meinen gar, dass sich die Drogenkriminalität seit der Etablierung von Friedenpolizeicorps von den Favelas in die Innenstadt verlagert hat.

So gibt es bis zur Fußball-WM in Sachen Sicherheit noch einiges zu tun, doch die Cariocas sind zuversichtlich. Nicht nur für sie ist Rio noch immer die gefühlte Hauptstadt Brasiliens, obwohl die Sechs-Millionen Metropole seit 1960 offiziell auf diesen Status verzichten muss. Damals wurden in der Retortenstadt Brasilia die Regierungsgeschäfte aufgenommen.

Noch vor Rio, nämlich bis 1763, war Salvador da Bahia mehr als zwei Jahrhunderte lang die Hauptstadt der damaligen portugiesischen Kolonie. Man nannte sie aufgrund der Vielzahl an Barockkirchen, Kathedralen und Paläste sowie der überwiegend dunkelhäutigen Bevölkerung auch «das schwarze Rom». Noch heute gilt sie als die schwarze Metropole des Landes. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung des Bundesstaates Bahia stammen von den vier bis fünf Millionen Sklaven ab, die von den Portugiesen in vier Jahrhunderten vornehmlich aus den heutigen Staaten Angola, Mosambik, Nigeria, Benin und Kongo nach Brasilien verschleppt wurden.

Entrechtet und erbarmungslos ausgebeutet, gelang es ihnen dennoch über Jahrhunderte ein wenig von ihrer einstigen Heimat zu erhalten, an das sie sich klammern und neuen Lebensmut schöpfen konnten, während sie auf Zuckerrohrplantagen und als Haussklaven schufteten. Erst 1888 beendete Brasilien diese Form der Ausbeutung.

An jeder Ecke trifft man in der mit 2,7 Millionen Einwohnern drittgrößten Stadt Brasiliens auf Zeugnisse aus der Sklaverei. Die Altstadt Pelourinho, zu deutsch Pranger, erinnert an eine besonders dunkle Seite der Sklavenzeit, als schwarze Arbeiter hier öffentlich ausgepeitscht wurden. Nicht weit vom einstigen Standort des Prangers entfernt befindet sich die Kirche der Sklaven, denen der Eintritt in die prunkvollen Gotteshäuser der Weißen strengstens verboten war.

Hinter der Zumbi-Statue geben Capoeira-Kämpfer eine Kostprobe aus afrikanischem Kampfsport, vermischt mit ästhetischem Tanz. Keine hundert Meter weiter stößt man auf die mit reichlich Blattgold verzierten Innenräume der Basilika und ihr gegenüber der berühmten Franziskuskirche, die mit wunderschönen Blaufliesenmalereien verziert ist. «Beide zeugen vom einstigen Reichtum Salvadors, der nicht nur vom Sklavenhandel rührte, sondern sich auch aus den Goldfunden im 18. Jahrhundert generierte», erzählt Irma Hellwig, die seit einigen Jahren deutsche Touristen durch ihre Wahlheimat führt.

Irma ist von der starken Verwurzelung afrikanischer Religionen, Riten, der Küche und Kultur in Salvador fasziniert. Und sie freut sich darüber, dass der afrikanische Glaube des Candomblé mit dem Erstarken des Selbstbewusstseins der schwarzen Bevölkerung neuen Aufschwung genommen hat. «Heute können selbst Touristen an Zeremonien teilnehmen, die noch vor etwa 100 Jahren ein völliges Tabu waren», sagt Irma.

Der rhythmische Klang der Trommeln ist jeden Tag im Pelourinho vernehmbar. Er hat der Musikkultur der drittgrößten brasilianischen Stadt ein eigenes Gesicht gegeben und die Drei-Millionen-Metropole zur Musikhauptstadt Brasiliens aufsteigen lassen. Ausgelassenheit, Musikalität und folkloristische Verbundenheit sind Wesenszüge der Bahianer. «Musik und Tanz gehören in dieser Stadt zum täglichen Leben wie Essen und Trinken», sagt Irma. dpa

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Reise nach Rio de Janeiro/Salvador de Bahia

Allgemeine Informationen: Derzeit unterhält Brasilien kein Büro des Fremdenverkehrsamtes in Deutschland. Die Adresse in Basilien lautet: Brazilian Tourist Board (Embratur), SCN Quadra 02 Bl. G, Brasilia 70712-907 (Tel.: 0055/61/429 78 29).

Anreise: Die Flugzeit von Deutschland nach Brasilien beträgt zwischen elf und zwölf Stunden. Derzeit fliegt Lufthansa täglich von Frankfurt nach Rio de Janeiro. Auch Condor bietet Verbindungen nach Brasilien an. Mit Zwischenstopp geht es zum Beispiel mit TAP.

Zeitunterschied zu Deutschland: Rio de Janeiro und Salvador da Bahia liegen fünf Stunden hinter der Mitteleuropäischen Zeit.