Sehnsucht Sylt Strandkorb im Garten als Inselersatz

Von Linda Vogt und Birgitta von Gyldenfeldt

Seit 16 Jahren verkauft Kay Gosebeck Strandkörbe - was in der Corona-Krise passiert, hat er noch nicht erlebt. «Bei uns ist Land unter, wir werden erschlagen mit Aufträgen», sagt der 62 Jahre alte Gründer der Strandkorbmanufaktur Buxtehude. Fast 4000 Klicks zählt er derzeit am Tag auf der Website des niedersächsischen Unternehmens. «Die Leute haben viel Zeit, sie sitzen am PC.» Von jedem zweiten Kunden höre Gosebeck am Telefon: «Der Urlaub ist abgesagt und stattdessen möchten wir einen Strandkorb im Garten haben oder auf dem Balkon.»

Wegen der Pandemie sind die Inseln an Nord- und Ostsee für Urlauber tabu. Und Gosebeck musste das Ladengeschäft vor einigen Wochen schließen. «Für uns ging an dem Montag eine Welt unter. März, April, Mai, das sind die drei Monate, wo wir 50 Prozent unseres Jahresumsatzes fahren. Aber wir merkten gleich am nächsten Tag, dass die uns hier umlaufen mit Online-Aufträgen.» Es sei der beste März seit Firmengründung geworden.

Auf Sylt, in der Strandkorbmanufaktur in Rantum, sind derzeit alle Mitarbeiter der Produktion beschäftigt. Die Auftragslage sei noch gut, sagt André Möller, Schwiegersohn des Firmeninhabers beim Gang durch den Betrieb. In der großen Lagerhalle stehen den Winter über rund 1000 Strandkörbe, die die Manufaktur an Hotels, Restaurants und Ferienwohnungen vermietet. Jetzt ist die Halle fast leer.

In den Werkstätten sind die Mitarbeiter der Manufaktur dabei, neue Strandkörbe zu fertigen. Ungefähr fünf werden pro Tag in der Manufaktur gebaut. 70 Prozent der Produktion gehen traditionell aufs Festland - nach Bayern, ins Rheinland und ins Frankfurter Umland beispielsweise. «Die meisten Strandkörbe gehen an Privatleute», sagt Möller. Sie wollten etwas mitnehmen von ihrer Lieblingsinsel.

Gilt das auch in der Corona-Krise, in der Sylt in unerreichbare Ferne rückt? «Es wird online schon ganz gut bestellt», sagt Svenja Möller-Trautmann, Möllers Frau. Die Tischlerin ist gerade dabei, ein Strandkorb-Unterteil zusammenzubauen. Aber man merke schon, dass die Laufkundschaft fehle. Viele wollten sich ihren Stoff vor Ort aussuchen, einmal anfassen, Probesitzen, sagt sie. Individuelle Wünsche würden berücksichtigt: Ein Kunde wollte einmal eine Sitzheizung eingebaut haben, wie Möller-Trautmann erzählt.

«Wenn man 2000 Euro ausgibt, möchte man vorher eigentlich auch mal im Strandkorb drin sitzen», sagt Gosebeck in Buxtehude. Zehn Stunden Arbeit steckten in einem seiner Strandkörbe. In einem Werk in Indonesien arbeiteten 160 Korbflechter - rund sechs Stunden benötige einer für einen Korb. Es folgten zwei Stunden Tischler-Arbeit.

Genäht, gepolstert und geschnitten werde in Buxtehude, wo derzeit knapp 50 Leute beschäftigt seien.

Die Strandkorbmanufaktur Bris in Ahrensbök in Schleswig-Holstein verzeichnet ebenfalls eine gestiegene Nachfrage. «Es ist ein Wahnsinn, die Menschen sitzen zu Hause, können nicht in den Urlaub fahren», sagt Inhaber Angelo Bris. «Sie entschließen sich, einen Strandkorb zu kaufen, um wenigstens ein bisschen die Ost- oder Nordsee bei sich im Garten zu haben.» Die Produkte seien fast völlig ausverkauft. «Sicherlich ist die Nachfrage ungebrochen», sagt Lars Eggers vom gleichnamigen Strandkorbhersteller in Mölln. «Aber es ist auch saisonal bedingt, dass die meisten Leute jetzt einfach an einen Strandkorb denken.»

Martin Bockler von der Industrie- und Handelskammer Niedersachsen benennt noch andere mögliche Profiteure der Krise, wobei die Zahl der negativ Betroffenen deutlich höher sei. Gefragte Produkte seien Kinderspielzeug und -bücher, IT-Ausstattung fürs Homeoffice sowie Heimfitnessgeräte. Nicht immer könnten die Hersteller die Nachfrage bedienen, bei Headsets sei es zu Lieferengpässen gekommen.

«Wir arbeiten zwölf Stunden am Tag, einige arbeiten am Sonnabend hier», erklärt Gosebeck. Auch über Ostern seien Schichten geplant. dpa

Stiller Sehnsuchtsort - Sylt ohne Urlauber

An der Autoverladestation in Niebüll ist an diesem Morgen fast nichts los. Ein paar Handwerker, einige Autos mit NF-Kennzeichen für den dortigen Landkreis Nordfriesland.

Polizisten kontrollieren die wenigen Fahrzeuge mit Kennzeichen aus anderen Kreisen, fragen, aus welchem Anlass man nach Sylt möchte, lassen sich Sondergenehmigungen zeigen. Normalerweise wäre an einem Tag in der Karwoche hier viel mehr los. Aber in diesen Tagen der Corona-Pandemie ist nichts normal. Sylt und die anderen Inseln dürfen derzeit nicht von Urlaubern betreten werden.

Sylt lebt nahezu ausschließlich vom Tourismus. Ostern beginnt die Saison, die viele Hoteliers, Gastronomen und Ferienwohnungsvermieter den Winter über herbeisehnen. «Jetzt ist die Zeit, wo alles wieder anfährt», sagt der Chef der Sylt Marketing GmbH, Moritz Luft.

Eigentlich. Denn trotz des tollen Frühlingswetters, trotz Ferien und Ostern herrscht auf der Insel fast gespenstische Leere. In der normalerweise so belebten wie beliebten Friedrichstraße in Westerland sind Restaurants, Cafés, Boutiquen und Galerien geschlossen - wegen der Corona-Pandemie.

Der Bürgermeister der Gemeinde Sylt, Nikolas Häckel, steht an der Kurpromenade in Westerland. «Normalerweise wäre es hier jetzt voll», sagt er und zeigt um sich. Doch nun sind Kurpromenade und Strand verwaist - von vereinzelten Spaziergängern und Joggern abgesehen. «Es ist dramatisch für uns, so kennen wir unsere Insel gar nicht», sagt Häckel. «Es ist für uns ein Desaster, wenn wir uns anschauen, dass wir normalerweise zu Ostern acht Prozent unseres Jahresgeschäftes machen. 350 000 Übernachtungen werden uns dieses Jahr fehlen, das ist schon eine ganz, ganz große Zahl, die viele wirtschaftlich herausfordern wird.»

Gut 43 400 Betten in Ferienwohnungen, Hotels und Pensionen, Jugendherbergen und auf Campingplätzen gibt es auf Sylt der Tourismusstatistik 2018 des Sylt Tourismus Service zufolge. Ungefähr

10 000 davon befinden sich demnach in ausschließlich privat genutzten Zweitwohnungen. Vereinzelt versuchen Gäste, das Betretungsverbot der Insel zu umgehen und sich an den Kontrollen vorbeizuschmuggeln, sagt Häckel. Auch die Anfrage nach Ummeldungen vom Neben- auf den Erstwohnsitz habe es gerade zu Beginn der Pandemie ebenso häufig gegeben wie Wasserrohrbrüche und andere unaufschiebbare Reparaturarbeiten, die zum Betreten der Insel berechtigen. «Die Menschen sind ganz kreativ, auf jeden Fall», sagt der Bürgermeister.

In Kampen stehen vereinzelt teure Autos mit auswärtigen Kennzeichen vor reetgedeckten großen Immobilien. Menschen sind in den Gärten und Häusern nicht zu sehen. Es ist still, ein Streifenwagen fährt durch den schmucken Nobelort, hin und wieder ein Auto oder Radfahrer.

Ansonsten scheint Kampen den Handwerkern und Gärtnern überlassen zu sein. An einer Appartementanlage am Roten Kliff sind die Gardinen in den Wohnungen zugezogen. Die Strandkörbe sind mit der Öffnung gen Terrassentür gedreht, Gartenmöbel stehen zusammengeklappt nahe am Haus.

An der Sansibar herrscht ebenfalls Stille statt Trubel. Außer Meeresrauschen und den Flügelschlägen zweier Schwäne, die über die Dünenkette bei Rantum hinwegfliegen, ist nichts zu hören. Keine Stimmen, kein Motorenlärm von vorbeifahrenden Autos. Die riesigen Strandparkplätze hier und anderswo, verwaist. Nur einzelne Wagen mit NF-Kennzeichen parken hier.

Die Dünen, die kilometerlangen weißen Sandstrände, die Wäldchen, wie in die Landschaft gekuschelte Reetdachhäuser - in der Stille wird noch deutlicher, wie schön die Insel ist und warum Sylt für viele Menschen ein Sehnsuchtsort ist. Doch viele Einheimische können die Schönheit ihrer Insel, die derzeitige Ruhe nicht genießen, wie Häckel sagt. «Wer existenzielle Sorgen hat, weil das Ostergeschäft fehlt, genießt die Situation nicht.»

«Jeder Tag, jede Woche», die die Insel abgeschnitten ist, keine Urlauber kommen dürfen, schmerze, sagt Luft von der Sylt Marketing.

Im Gegensatz zu den alpinen Wintersportorten, die die Saison zum Beginn der Einschränkungen zum Großteil hinter sich hatten, sollte das Geschäft an den Küstenorten jetzt erst richtig losgehen.

«Es ist ein großes wirtschaftliches Problem, das wir haben», sagt Häckel. «Das haben wir nicht nur auf Sylt, das werden alle Städte haben. Aber wir leben halt zu 100 Prozent vom Tourismus, und der fehlt zurzeit zu 100 Prozent.» dpa