Von Jenny Filon
Sie warten. Stehen geduldig in einer Schlange, die sich einen Häuserblock lang erstreckt, manchmal sogar zwei. Über Stunden. Manche lesen, einige starren auf ihre Smartphones, andere hören Musik.
Wer durch New York spaziert, stolpert irgendwann über dieses Bild. Wartende Menschen vor kleinen, unscheinbaren Läden, vor Essensständen, die sich in der ganzen Stadt verteilen - oder entlang bunter Schaufenster, in denen Backwaren zur Schau gestellt werden wie modische Accessoires. Und eines steht fest: Je länger die Schlange, umso aufregender scheint das, was am Ende auf die Geduldigen wartet.
Vor zwei Jahren war es der Cronut. Eine Mischung aus Donut und Croissant, gefüllt mit einer süßen Creme, die monatlich wechselt. Erfunden hatte ihn Dominique Ansel, Konditor aus Frankreich mit eigener Bäckerei im New Yorker In-Viertel SoHo. Nach nur drei Tagen warteten 100 Menschen vor seiner Bäckerei. Neun Tage später ließ sich Ansel seine Erfindung patentieren. Auf dem Schwarzmarkt wurden die Fünf-Dollar-Plunderteilchen für 20 bis 40 Dollar verkauft, irgendwann sogar für 100 Dollar. Denn die Anzahl ist begrenzt. Ansels Backstube ist klein. Nur ein paar Hundert der angesagten Teilchen backen seine Mitarbeiter dort täglich. Und der Hype scheint kein Ende zu nehmen.
Auch heute noch stehen New Yorker und Touristen für das frittierte Plunderteilchen an - Ansels Bäckerei hatte es weltweit in die Nachrichten geschafft. Fast täglich, von 5.30 Uhr an, bildet sich vor dem kleinen, hübschen Lokal an der Spring Street eine Schlange. Zweieinhalb Stunden bevor die Bäckerei überhaupt öffnet.
Die «New York Times» schrieb erst Anfang des Jahres unter dem Titel «Die mysteriöse Langlebigkeit des Cronut»: Die Schlange vor Ansels Bäckerei verkörpere die Anfälligkeit der New Yorker für Hypes und ihren Willen, eben dafür nicht nur teils unverschämte Preise zu zahlen, sondern auch Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen.
Ein Erfolg, der Nachahmer auf den Plan rief. Auf den Cronut folgten Bruffins (Brioche und Muffin) oder Cragels (Croissant und Bagel). Allesamt Zwitter-Snacks, Kombinationen zweier Speisen, die heute als «Hybrid-Food» gehandelt werden. Teilchen, die zumindest in New York zu Trends wurden. Und es sogar in deutsche Schlagzeilen schafften.
Vielleicht gerade weil sie aus dem Big Apple kommen, mutmaßt Cronut-Erfinder Dominique Ansel. «Es gibt Städte, die sind in Sachen Trends einfach führend», sagt er. New York gehöre dazu - ob kulinarisch, modisch oder in der Kunst. «Die New Yorker geben neuen Ideen eine Chance. Sie haben hohe Ansprüche, kein Zweifel, aber sie sind neugierig und offen für Neues.»
Doch was passiert innerhalb der New Yorker Food-Szene genau? Wie entwickeln sich Trends wie diese? Über diese Fragen muss Rowan Johnson nicht lange nachdenken. Sie ist Dozentin am Culinary Institute of America in New York City, es ist eine der renommiertesten Kochschulen der Welt. Als Konditormeisterin hat sie schon in vielen erstklassigen Restaurants der Stadt gearbeitet. Sie weiß: In New York kommen mehrere Dinge zusammen.
«Wenn es ums Essen geht, sind die New Yorker leidenschaftlich, fast enthusiastisch. Sie gehen dafür lieber aus, als sich zu Hause etwas zu kochen. Viele sind wohlhabend, gebildet, und dadurch immer auf der Suche nach etwas Neuem, etwas Aufregendem.» Eine besondere Nachfrage, die auf einen Markt treffe, gesättigt von ambitionierten, kreativen Köchen, die ständig miteinander in Konkurrenz stehen. «Das macht die Stadt zu einem perfekten Geburtsort für Food-Trends wie den Cronut.»
Einen Schritt weiter geht der Ethnologe Marin Trenk. Der 62-Jährige ist Buchautor und Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt. Dort führte er das Forschungsgebiet «Kulinarische Ethnologie» ein. Er erforscht weltweit Esskulturen. «Amerika ist als Einwanderungsland zur Nation geworden», sagt er. «Deswegen hat sich dort nie eine eigene Küche oder auch nur ein verbindlicher Essstil entwickeln können.» Folglich sei die Neigung der Amerikaner, nicht allein der New Yorker, zur Fusion- und Crossover-Küche immer schon hoch und die Hemmschwelle, alles Mögliche miteinander zu kombinieren, besonders niedrig gewesen. «Wo sonst hätte man die Erzeugnisse von Starbucks erfinden können?», fragt er. «Diese Synthese aus italienischem Espresso und erzamerikanischem Milchshake.»
Doch wie es auch ausgelegt wird: Fest steht, dass in der Millionenmetropole ständig irgendwo irgendetwas Neues entsteht. Es wird gebacken, gekocht und kombiniert. Eis wird gekratzt, nicht mehr nur in Kugeln geformt. Brötchen werden nicht mehr nur belegt, sondern gefüllt. Und schnöde Cornflakes gibt es hier «to go». dpa
New Yorks Essenstrends: Was ist was?
EISRÖLLCHEN: Die «Vogue» ist schuld, dass sich vor dem kleinen Eiscafé «10Below» mitten in Chinatown derzeit die wohl längste Schlange der Stadt bildet. Denn erst im August schrieb das renommierte Modemagazin auf seiner Internetseite: Eis-Röllchen könnten der nächste Cronut werden. Und die New Yorker begannen zu pilgern. Dabei ist die Idee, Eiscreme in Röllchen zu servieren, gar nicht neu. In Thailand gibt es diese Art der Zubereitung schon seit 2011. Dazu wird eine Englische Creme - hergestellt aus Eigelb, Zucker und Milch - auf eine auf minus zehn Grad temperierte Platte gegeben. Dazu kommen Zutaten wie Schokochips, Früchte oder Kekse, die hineingerührt werden. Mit einem Schaber wird das Eis dann zu Röllchen geformt. Obendrauf, wie beim Frozen Yogurt, gehören Toppings wie Brownies, Käsekuchen-Stücke, oder Heidelbeeren. Preis: um die sechs Dollar.
ICE CREAM SANDWICH: Eiscreme oder Keks? New York nimmt einem diese Entscheidung einfach ab. Denn der Ice Cream Sandwich vereint beides. Und zeigt: Das uramerikanische Burger-Prinzip ist auch beim Eis angekommen. Denn das Rezept ist simpel: Zwei extra-teigige Cookies, dazwischen eine Kugel - oder eher eine Scheibe - Eis. Die Sorten reichen von Snickers-Cookies mit Zimt-Eis über Schoko-Cookies mit Schoko-Rum-Eis bis hin zum Erdnussbutter-Cookie mit Bananen-Eis. Preis: vier Dollar.
KULFI: In diesem Sommer hat es auch das traditionelle indische Kulfi-Eis auf die «Must try»-Listen der Stadt geschafft. Besonders beliebt ist die Kardamom-Pistazien-Honig-Version von «Babu Ji», einem indischen Restaurant im East Village. Traditionell wird Kulfi-Eis aus Büffelmilch hergestellt. Restaurant-Chef Jessi Singh nimmt dennoch Kuhmilch, kocht diese aber unter ständigem Rühren extra lang (fünf bis sechs Stunden), damit sein Eis so fest und gleichzeitig cremig wird wie traditionelles Kulfi. Gefroren wird es in langen, schmalen Metallförmchen. Preis: sechs Dollar.
BRUFFIN: Welche Gebäcksorten Michael Bailey für seinen Bruffin gekreuzt hat, dürfte nicht allzu schwierig zu erraten sein: Brioche und Muffin. Doch was nach einer süßen Kalorienbombe klingt, kommt (fast) nur herzhaft daher. Lediglich 3 von 16 Sorten, die als Dessert taugen, hat der New Yorker Bäcker derzeit im Angebot. Ein Grund, warum Bailey den Bruffin auch gerne als «ganze Mahlzeit» anpreist, denn als Snack. So ist der «Amerikaner» beispielsweise mit Hühnchen, Käse und scharfer Soße gefüllt, der «Schwede» mit Lachs, Ziegenkäse, Kapern und Spinat. Selbstverständlich gibt es auch eine deutsche Version. Die kommt mit einer Füllung aus Würstchen, Sauerkraut, geräuchertem Gouda und Senf. Preis: rund sechs Dollar.
CUPCARON: Die Schlange vor dem kleinen Laden «Baked by Melissa» im New Yorker Fashion District (insgesamt gibt es 13 Läden) hat mittlerweile nachgelassen. Denn momentan sind die Mini-Cupcake-Macaron-Hybride ausverkauft. Gab es im Frühling noch drei verschiedene Sorten (vom Erdbeer-Marshmallow-Cupcake mit Erdbeer-Macaron bis zum Schoko-Cupcake mit Butterkeks-Macaron), gibt es derzeit nur den Zitronen-Cupcaron zu kaufen - online. Und zwar im 300er-Paket für stolze 300 Dollar.
KNOCHENBRÜHE: Bei «Brodo» im East Village ist vor allem im Winter Hochsaison. Denn dann stehen die New Yorker wieder für die heiße Brühe von Starkoch Marco Canora Schlange: Bone Broth, eine Brühe aus Knochenmark. Im Angebot sind drei Sorten: ausgekochtes Hühnchen, Truthahn und Rind, mit einer Knochenmark-Einlage, sowie klassische Hühner- und Rinderbrühe. Wem das zu fade ist, der kann seine To-go-Brühe im Pappbecher mit Ingwersaft, Chili-Öl oder Knoblauchpüree verfeinern lassen. Preis: zwischen vier und neun Dollar.
BALLPARK BOMB: Brötchen werden in New York selten belegt. Sowieso gilt: Was für den Deutschen das halbe Käsebrötchen ist, ist für den New Yorker ein Bagel mit Schmierkäse. Seit diesem Sommer werden Brötchen allerdings bevorzugt gefüllt. Und zwar im Fall der «Ballpark Bomb» von Köchin Christina Tosi, deren «Milk Bar» fünf Mal in Manhattan zu finden ist, mit würzigen Würstchen, die umhüllt von einer Creme aus Senf und Schmierkäse, in einem Brötchen aus Brezelteig ruhen. Obendrauf: Sesamkörner, koscheres Salz und Selleriesamen. Und das Ganze: frisch aus der Mikrowelle. Preis: vier Dollar.
AUSSER KONKURRENZ: Etwas aus der Reihe fällt einer der neuesten Food-Trends der Stadt: Müsli to go. Wer also derzeit durch Brooklyn spaziert, sollte sich nicht über Menschen wundern, die ebendieses aus Schuhkartons zu sich nehmen. Denn mitten im Stadtteil Prospect Heights hat erst kürzlich die erste Müsli-Bar New Yorks eröffnet - und zwar im Eingangsbereich des Modegeschäfts «Kith NY», das für seine exquisite Auswahl an Schuhwerk bekannt ist. Hier gibt es von 7.00 Uhr morgens an 24 verschiedene Müslisorten zur Auswahl, dazu fünf verschiedene Milchsorten (von fettfrei bis Mandelmilch) und 25 Toppings, darunter gesüßte Cornflakes oder zerbröselte Oreo-Kekse. Alles einzeln verpackt und im Schuhkarton serviert. Und wer's gehaltvoller mag, kann die Milch durch Eis ersetzen. Preis: ab sechs Dollar.
Die Locations:
Ansels Bäckerei, 189 Spring St, New York, NY 10012
10Below, 10 Mott St, New York, NY 10013
Melt-Bakery, 132 Orchard St, New York, NY 10002
Babu Ji, 175 Avenue B, New York, NY 10009
The Bruffin Café, 52 Gansevoort St, New York, NY 10014
Backed by Melissa, 526 7th Ave, New York, NY 10018
Brodo, 196 1st Avenue, New York, NY 10009
Milk Bar, 15 W 56th St, New York, NY 10019
Kith NY, 233 Flatbush Ave, Brooklyn, NY 11217