Von Claudia Thaler
Von der Hauptstadt aus braucht man zwölf lange Stunden bis an diesen Ort: Kasan liegt tief in der russischen Provinz, 800 Kilometer von Moskau entfernt, und ist doch längst keine Unbekannte mehr. Die WM-Stadt hat sich über die Landesgrenzen hinaus als Ort für internationale Sportwettbewerbe einen Namen gemacht. Kasan hat aber vor allem als multiethnischer Schmelztiegel einen festen Platz in Reiseführern über Russland.
«Hier sind die Menschen toleranter und offener», sagt Regina Skoblionok vom Tourismusbüro der Stadt. Ihre Mutter ist Muslimin, ihr Vater Jude, zu Hause wird Russisch gesprochen. Diese Konstellation ist bei weitem kein Einzelfall in der Wolga-Metropole. Multikulti ist in Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, allgegenwärtig. Auf den Straßenschildern stehen beide Sprachen, Russisch und die Turksprache Tatarisch - eine Selbstverständlichkeit.
Besonders für junge Russen hat die Stadt viel Lebensqualität und Potenzial zu bieten. «Es muss nicht immer Moskau oder St. Petersburg sein», sagt Marina Kornewa, die auf Instagram die bunten und ungewöhnlichen Seiten ihrer Stadt zeigt: Graffiti, Street Art und verlassene Industriegebiete - aber auch die Tradition. «In Kasan trifft sich alles: jung und alt, West und Ost», sagt Marina.
Ausgangspunkt für eine Erkundung der Stadt ist der Kreml im Zentrum. Hinter den weißen Mauern des Unesco-Weltkulturerbes prangt das Wahrzeichen der Stadt von einer kleinen Anhöhe: die blauweiße Kul-Scharif-Moschee. Ein kurzer Blick hinein ist für Touristen obligatorisch. Frauen verteilen am Eingang an Besucherinnen Kopftücher, Männer werden bisweilen auf zu kurze Hosen hingewiesen. Erst dann darf man über schmale Marmortreppchen zum Balkon hinaufsteigen, um den prunkvollen Gebetsraum anzuschauen. Hinter den goldverzierten Kronleuchtern steckt viel Arbeit. Die zweitgrößte Moschee des Landes wurde erst 2005 nach umfangreichen Renovierungsarbeiten wiedereröffnet.
Nur ein paar Schritte entfernt steht der Spaziergänger vor der russisch-orthodoxen Mariä-Verkündigungs-Kathedrale mit vier blauen und einem goldenen Zwiebeltürmchen. Auch die Synagoge für die rund 10 000 gläubigen Juden in der Stadt ist nur einen Straßenzug entfernt. Kasan steht für ein friedliches Miteinander der Religionen.
Die Feierlichkeiten zum 1000-jährigen Bestehen der Stadt 2005 und Sportereignisse wie die Studenten-Olympiade 2013 haben der Millionenstadt einen gewaltigen Modernisierungsschub verpasst. Das damals erbaute Universiade-Dorf wurde zu einem modernen Studentencampus umgebaut, die Straßen im Zentrum saniert. Die Innenstadt wandelte sich zum Anziehungspunkt für junge Menschen. Die neugebaute Metro fährt vom Süden der Stadt bis in den Norden nahe der Kasan-Arena. Den Anzeigetafeln mit zwei Sprachen wurde noch eine dritte hinzugefügt - Englisch ist inzwischen auch in Kasan ein Muss.
Nächster Stopp: Bauman-Straße. Neugepflastert, schick und modern präsentiert sich die zentrale Flaniermeile. «Kein Weg führt an ihr vorbei», sagt Kornewa. Rote Kacheln, Backsteinhäuser und unweigerlich wieder - Moschee an orthodoxer Kirche. Fast jeder Kasaner quert mindestens einmal am Tag die breite Straße: Studenten auf dem Weg zur Universität, Touristen beim Spaziergang zum Kreml. Gleichzeitig schreiten sie an brachliegenden Hinterhöfen vorbei. Zwischendrin versteckt sich auch eines der typischen tatarischen Holzhäuschen aus längst vergangenen Zeiten.
Verweilt man vor den Jugendstil-Häusern, die an die Wiener Innenstadt oder an italienische Prunkbauten erinnern, kommt der Duft frischer Pfannkuchen immer näher. Lieben Russen die hauchdünnen Bliny, verehren die Tataren ihre Kystyby: Die zu kleinen Taschen gefalteten Pfannkuchen werden in Öl gebraten und zum Beispiel mit Kartoffelpüree gefüllt. Ebenfalls typisch: süßes Tschak-Tschak, ebenfalls frittiert, jedoch mit Honig verfeinert. Ein kalorienreicher Imbiss, der vor allem für klebrige Finger sorgt.
An vielen Ecken Kasans spielen Straßenmusikanten, Menschentrauben sammeln sich, und Verliebte tanzen nachts im sanften Laternenlicht. «Das war vor ein paar Jahren noch nicht so selbstverständlich», sagt Marina. Immer mehr junge Menschen ziehen in die Stadt, auch weil hier die Jobchancen und das Lohnniveau höher sind als in der übrigen Region. Jeder neunte Einwohner ist einer offiziellen Statistik zufolge inzwischen Student. Selbst der bekannte Schriftsteller Leo Tolstoi studierte schon an der Kasaner Uni. Der spätere Sowjetautor Maxim Gorki wollte es ihm gleichtun, schaffte jedoch die Aufnahmeprüfung nicht.
Die Modernisierung der Studentenstadt spiegelt sich in einem offiziellen Ranking wieder: Im vergangenen Jahr wurde Kasan bereits zum vierten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt Russlands gewählt - deutlich vor den Hipstermetropolen St. Petersburg und Moskau. Für den 60-jährigen Iwan, der vor dem Kasaner Kreml Touri-Touren und WM-Souvenirs verkauft, ein klarer Fall: «Hier herrscht keine Hektik, sondern Gelassenheit - perfekt für guten Fußball.» dpa
Reise nach Kasan
Anreise: Direktflüge gibt es nur wenige, Aeroflot setzt etwa Sonderflüge ab Frankfurt am Main ein. Der Flughafen in Kasan ist aber gut angebunden. Mehrmals täglich wird die Stadt aus Moskau oder St. Petersburg angeflogen, ansonsten gibt es auch Nachtzüge. Vom Flughafen fährt ein Zug zum Hauptbahnhof Kasan, der vom Stadtzentrum aus zu Fuß erreichbar ist.
Einreise: Deutsche Staatsbürger brauchen ein Visum, zu besorgen über die Botschaft in Berlin oder die Generalkonsulate in Hamburg, Bonn, Frankfurt und München. Für die WM ersetzt die Fan-ID das Visum.
Übernachtung: Hotels gibt es in Kasan in jeder Preisklasse, in den vergangenen Jahren sind zahlreiche moderne Hostels entstanden. Immer mehr Kasaner vermieten ihre Wohnungen auf Zeit über Airbnb.
Währung: Für einen Euro bekommt man derzeit 70 bis 75 russische Rubel. Bargeld kann problemlos an Geldautomaten abgehoben werden.
WM-Spiele in Kasan: Frankreich-Australien (16. Juni), Iran-Spanien (20. Juni), Polen-Kolumbien (24. Juni), Deutschland-Südkorea (27. Juni), Achtelfinale (30. Juni), Viertelfinale (6. Juli)
Informationen: www.russlandinfo.de