Rohe Sprossen sind tabu

In Deutschland sollten derzeit keine rohen Sprossen gegessen werden - auch keine selbst gezogenen. Diesen Schluss ziehen die Behörden aus der Suche nach der EHEC-Infektionsquelle. Sprossen von einem Biohof im niedersächsischen Bienenbüttel sind zweifelsfrei als Träger des Erregers identifiziert.

Nicht geklärt ist jedoch, ob Mitarbeiter den Keim eingeschleppt haben oder er durch Saatgut oder andere Quellen in den Betrieb gelangte. Deswegen rät das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) auch davon ab, selbst gezogene Sprossen und Keimlinge zu essen. Die Infektionswege der Mitarbeiter sind ebenfalls noch ungeklärt.

36 Menschen sind bis zum Pfingstmontag an den Folgen der EHEC-Erkrankung gestorben, darunter ein Mensch in Schweden. Zuletzt meldete Hamburg den Tod einer älteren Frau.

Bei der Suche nach der Infektionsquelle sind auf dem Biohof drei Sprossen-Arten ins Visier der Fahnder geraten. Niedersachsens Gesundheitsministerin Aygül Özkan (CDU) sagte, fünf erkrankte oder positiv getestete Mitarbeiterinnen des Betriebes hätten bevorzugt Sprossen von Brokkoli, Knoblauch und Bockshorn gegessen.

Das BfR vermutet, dass das Saatgut für Sprossen mit dem EHEC-Keim verseucht sein könnte. «Wenn bereits die Samen mit Keimen belastet sind, dann schützt auch die Einhaltung von Küchenhygieneregeln nicht vor einer EHEC-Erkrankung», erklärte BfR-Präsident Andreas Hensel. Auf die Saatgut-Spur brachte die Fahnder eine erkrankte Familie in Niedersachsen. Bei dem Fall konnte der Erreger zunächst aber nicht in den Samen nachgewiesen werden. Wer nicht auf die Keimlinge verzichten will, sollte sie gut abkochen oder braten, raten Verbraucherschützer.

Am Wochenende hatte sich der Verdacht gegen den Biohof erhärtet. Der EHEC-Erreger an den Sprossen des Betriebs ist exakt vom selben Typ ist wie die Bakterien, an denen Menschen starben. Zudem war bei zwei weiteren Mitarbeiterinnen des Sprossenerzeugers der Darmkeim nachgewiesen worden. «Damit können wir einen weiteren wichtigen Teil einer Indizienkette vorlegen», sagte Özkan. Bereits im Mai waren drei Mitarbeiterinnen des Betriebes mit EHEC-Symptomen erkrankt.

Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) nimmt die Zahl der EHEC-Neuerkrankungen ab. Seit einigen Tagen werden «auf deutlich niedrigerem Niveau» Fälle übermittelt, teilte die Behörde mit. Ob der Rückgang auf ein verändertes Essverhalten oder auf ein Versiegen der Infektionsquelle zurückzuführen ist, konnte das RKI nicht sagen. «Die Situation scheint unter Kontrolle zu sein», sagte EU-Verbraucherkommissar John Dalli bei einem Treffen auf Malta.

Bis Pfingstsonntag registrierte das RKI 3228 Erkrankungen. Davon litten 781 Menschen unter der besonders schweren Verlaufsform HUS, dem hämolytisch-urämischen Syndrom. 69 Prozent davon seien Frauen. Bei HUS können unter anderem die Nieren versagen.

«Etwa 100 Patienten sind so stark nierengeschädigt, dass sie ein Spenderorgan brauchen oder lebenslang zur Dauerdialyse müssen», sagte Gesundheitsexperte Karl Lauterbach der «Bild am Sonntag». Der drohende Nierennotstand verschlimmert ein bekanntes Problem: Bundesweit stehen etwa 8000 Menschen auf der Warteliste für eine neue Niere - wegen ganz unterschiedlicher Krankheiten. Weniger als 3000 Nieren wurden allerdings im vergangenen Jahr verpflanzt, wie aus Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation hervorgeht.

Lauterbach warnte vor weiteren EHEC-Ausbrüchen in Deutschland. «Wir müssen zum Beispiel davon ausgehen, dass dieser neue Keim nicht einfach verschwindet. Sondern der wird mit uns sein», sagte der SPD-Politiker der Nachrichtenagentur dpa. Der aktuelle Fall zeige: In der Zukunft müsse man mit neuen gefährlichen EHEC-Stämmen rechnen.

Zuvor hatte Lauterbach in der Zeitung das Meldeverfahren als zu langsam kritisiert. Die Erkrankungen würden vom Gesundheitsamt vor Ort teils per Post über das Landesgesundheitsamt an das RKI mitgeteilt. Das dauere mindestens eine Woche. Die Kliniken sollten Fälle direkt per Mail an das RKI melden. Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) will nach der Krise gemeinsam mit Bund und Ländern das Verfahren überprüfen. Forderungen nach einer zentralen Stelle zur Seuchenbekämpfung erteilte er erneut eine Absage.

Taiwan kündigte an, ab Dienstag keine Sprossen mehr aus Deutschland einzuführen. Russland will sein Importverbot für Gemüse aus der gesamten EU erst wieder erlauben, wenn es auf EHEC geprüft wurde und mit einem Laborzertifikat versehen ist.

Wegen der Seuche war der Absatz nach Behördenwarnungen vor frischem Gemüse wie Tomaten, Gurken und Salat europaweit eingebrochen. Wie viel Geld die Bauern der EU für die Umsatzeinbußen erhalten werden, entscheiden Experten der Mitgliedstaaten an diesem Dienstag in Brüssel. Nach einem Vorschlag der EU-Kommission sollen die Landwirte 210 Millionen Euro erhalten. Das Geld soll bis Juli bereitstehen und aus dem EU-Agrarhaushalt kommen.

In Deutschland sei die Vorbereitung für die nationale Umsetzung des Hilfsprogramm bereits angelaufen, teilte das Bundesverbraucherministerium mit. Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) will am Dienstag betroffene Betriebe in Bayern und Schleswig-Holstein besuchen und Gespräche führen. dpa