Buchmesse und Lesungen

Im Literaturhaus zu lesen, sei «wie einen Autoreifen ficken». Das hat Benjamin von Stuckrad-Barre (35) einmal geschrieben. Schon vor zehn Jahren las der damalige «Popliterat» an ungewöhnlichen Orten, spielte dröhnende Musik und zeigte Dias von Klotür-Kritzeleien. Er war einer der Vorreiter - heute boomen Event-Lesungen.

Frank Schätzing mit seiner «Limit»-Multimedia-Show und Sprach-Pedant Bastian Sick füllen die großen Hallen, Krimis werden mit Blutbeutel im OP-Saal inszeniert, zum Roman gibt's Kulinarisches. Stirbt also die klassische «Wasserglaslesung» aus? Zuletzt gab es darum auch im Branchenmagazin «Buchreport» einen Expertenstreit.

Hamburgs Literaturhaus-Leiter Rainer Moritz ist Verfechter der «Wasserglaslesung». Rückläufige Besucherzahlen hat er nicht. «Im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, dass die Menschen das Bedürfnis haben, sich mal wieder zu konzentrieren, nicht multimedial ablenken zu lassen, sondern sehr konzentriert einem sprachlichen Kunstwerk - um es bewusst altmodisch zu sagen - zu folgen.» Das «konzentrierte Einlassen auf einen Text» sei auch in den Schulen einer Häppchen- Kultur gewichen, Literaturinstitutionen müssten dagegen ankämpfen.

Moritz hebt «die großen Altmeister» hervor: «Wenn Sie Günter Grass oder Martin Walser hören, das sind im wahrsten Sinne des Wortes Leseprofis.» Verteufeln will er die Event-Lesungen des Kölner Autors Schätzing aber nicht: «Nun sind Frank Schätzings Werke nicht die hochliterarischen Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur. Und die leben ja sehr viel auch von ihrer Recherche, von ihren Inhalten, weniger von der sprachlichen Gestaltung.» Da sei es legitim, wenn ein Schriftsteller - wenn er es denn kann - daraus Performances mache.

Stuckrad-Barre kann sich mit dem typischen Literaturhaus nicht versöhnen: «Zunächst mal die Atmosphäre, alles dort ist eng. Das Publikum ist zu wenig durchmischt. Die Menschen legen den Kopf schief, nippen am Weinglas und befinden sich im Zustand komplett verblödeter Kulturdarbietungserwartung. Das gute Buch!», entwirft er ein ähnliches Schreckensszenario wie in Loriots «Pappa ante Portas».

Für Stuckrad-Barre gibt es zwei Gründe, Lesungen zu besuchen: «Entweder geht es um bloße Aura» - «dass man einfach ein lebendes Denkmal angucken, möglicherweise sogar anfassen und sich das Buch unterschreiben lassen kann.» Er selbst will sich bald US-Autor Bret Easton Ellis angucken, der auch zur Frankfurter Buchmesse kommt. «Da ist es zweitrangig, wie die Lesung selbst ist.» Oder aber der da vorn müsse ein wirklich guter Vorleser sein, «und das sind die wenigsten».

Harry Rowohlt ist für ihn jemand, «der seinen Texten durch Vortrag nicht etwas nimmt, sondern souverän das Material beherrscht und es erhellend interpretiert». Max Goldt mit seinem ironisch-amüsanten Unterton und Sven Regener («Herr Lehmann») sind sicher auch zu nennen. Bei Rowohlt sind es dann oft Whiskyglas-Lesungen, Regener liest meist mit seinem Heimatbier Beck's auf dem Tisch.

Von zu viel Multimedia beim Lesen hält Stuckrad-Barre nichts: «Es wäre Unfug, da nun alle zwei Minuten einen Klingelton runterzuladen, damit alles wahnsinnig jung und modern ist.» Alles begründe sich vom Text her: «Welchen Text trägt man vor und was stellt der für Anforderungen?»

Rainer Osnowski, einer der Geschäftsführer des sehr erfolgreichen Kölner Lesefestivals Lit.Cologne, empfindet diese entweder-oder- Diskussion als «völlig überholt»: Die ernsthafte «Wasserglaslesung» werde weiter existieren. «Und es existieren aber auch die anderen Lesungen, die einen vielleicht größeren Eventcharakter haben, aber trotzdem nicht ohne Inhalt sind.»

Dass man junge Leute nur mit Events anlocken kann, stimmt nach Osnowskis Erfahrung nicht. «Die jungen Leute lassen das nicht einfach über sich ergehen, dass man ihnen "Eventlesungen" anbietet.» Die kämen zu den Lesungen, die sie interessierten. «Wir haben junge Leute in den kleinen Lesungen, wo es hochkonzentriert, hochintellektuell, oft auch hochpolitisch zugeht.»

Die Lit.Cologne versuche, auch zu arrivierten Autoren Gesprächspartner dazuzuholen. Herta Müller etwa habe sofort zugesagt, als man sie zu einem Gespräch über politische Dissidenten mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei eingeladen habe.

Osnowski: «Das ist ja auch eine Form von Eventisierung, dass man die Moderationsauswahl oder die Auswahl eines Schauspielers, der den Text liest, zu einer Außenwirkung der Lesung hinzurechnet.» Und so werde aus «der vermeintlichen Wasserglaslesung dann doch wieder etwas Spannendes».

(Inga Radel, dpa)