Corona und Ischgl in Tirol Weg von Hüttengaudi und Aprés Ski

Der Tiroler Tourismus steuert durch die Corona-Krise auf eine ungewisse Zukunft zu - aus Sicht der stellvertretenden Tiroler Landeschefin Ingrid Felipe (Grüne) muss daher nun ein Umdenken erfolgen. «Ich glaube schon länger, dass der Tiroler Tourismus sich viel stärker in Richtung eines klimafreundlichen, naturnahen, weniger auf Hüttengaudi und Après Ski und Pistenkilometer ausgelegten Tourismus entwickeln sollte», sagte Felipe der Deutschen Presse-Agentur.

«Spätestens jetzt müssen alle verstanden haben, dass die Zukunft nicht in noch mehr Liftstützen und Pistenkilometern liegt, sondern in einer naturnahen Erfahrung.»

Der Tiroler Tourismus und speziell der Wintersportort Ischgl stehen als eine Keimzelle des Coronavirus für ganz Europa schwer in der Kritik. Ein österreichischer Verbraucherschützer hat bereits mehr als

4000 Zuschriften von Menschen gesammelt, die davon ausgehen, dass sie sich in Tirol mit Sars-CoV-2 infiziert haben. Der Skibetrieb in Tirol steht seit dem 16. März still - neun Tage, nachdem in Ischgl der erste Corona-Fall bestätigt wurde.

Die Geschehnisse im März müssten unabhängig aufgeklärt werden, meint Felipe. «Es ist mir sehr wichtig, dass das umfangreich aufgearbeitet wird, weil man ja das Pauschalurteil über Ischgl und Tirol ausräumen muss. Es kann sein, dass es Einzelne gibt, die diese Kritik verdient haben. Aber man erwischt auch viele, die das nicht verursacht haben können.»

Die Grünen-Politikerin hofft zudem, dass die Corona-Krise in der gesamten Gesellschaft einen Veränderungsprozess lostreten wird. Das Zusammenleben müsse rücksichtsvoller, die Gesellschaft etwas ruhiger werden. «Unser Mobilitätsverhalten, das hat schon Dimensionen erreicht, die ja kaum mehr auszuhalten waren. Vielleicht kann man da auch die ein oder andere Lehre draus ziehen und nicht vier Mal im Jahr auf Urlaub fahren.» dpa

Ischgls Leid: Vom Après-Ski-Mekka zur Corona-Keimzelle

Virenschleuder, Keimzelle - der sonst so beliebte Wintersportort Ischgl wird derzeit mehr gescholten als gefeiert. Die Kritik lastet schwer. Doch hätte die Ausbreitung des Coronavirus im Après-Ski-Hotspot überhaupt verhindert werden können?

Ischgl, das steht eigentlich für Pisten, Schnee, Party. Auf rund 1600 Einwohner kommen mehr als 10 000 Gästebetten und

239 Kilometer Skipiste. «Relax, if you can» lautet der Marketing-Slogan des kleinen österreichischen Ortes. Die entspannte Stimmung aber ist verflogen. In Ischgl und dem Paznauntal ist zwar Ruhe eingekehrt - doch geredet wird viel.

Die internationalen Schlagzeilen, in denen Ischgl etwa als «Virenschleuder Europas» bezeichnet wird, beschäftigen die Menschen. «Viele haben Angst», sagt eine Frau, die lieber anonym bleiben möchte. Einige könnten nicht mehr schlafen, andere seien verzweifelt.

Es gehe um Existenzen, denn die wichtigste Einkommensquelle im Tal, im gesamten Bundesland Tirol, sei nun mal der Tourismus. «Wir sind vom Gefühl her auf dem Tiefpunkt.» Nun sei man bald der Sündenbock der Welt. Das schmerze sehr.

Andreas Walser lebt sein ganzes Leben schon in Ischgl. Im Dorf kennt ihn jeder als Arzt mit markantem Schnurrbart. Er kümmert sich bei Krankheiten und Unfällen um die Bewohner, das Personal in den Hotels und die Touristen. Auch bei Infektionen ist er die erste Anlaufstelle. Am 7. März führt Walser bei einem Mann in seiner Praxis einen Corona-Test durch. Der Mann ist Barkeeper in einem der angesagtesten Après-Ski-Lokale des Ortes. Dort versammeln sich jeden Abend die Touristen, trinken Bier und feiern ausgelassen. Der Test fällt positiv aus - der Barkeeper ist der erste bestätigte Corona-Fall in Ischgl, laut Recherchen der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit aber nicht der erste Virusträger im Ort.

«Dieser erste Patient ist zu uns gekommen mit einem schweren grippalen Infekt», erinnert sich Dorfarzt Walser. Er habe den Test «aufgrund der Symptomatik und der Anamnese vorgenommen». Später habe der Mann angegeben, «dass es Rückmeldungen über nach Hause gereiste Gäste gibt, die zu Hause positiv auf Covid-19 getestet wurden». Vor dem 7. März, erklärt Walser im medizinischen Fachjargon, habe es keinen einzigen mit dieser dem Virus typischen Lungenbeteiligung gegeben. «Weder bei uns, noch im Krankenhaus, noch in der Klinik Innsbruck», sagt er der Deutschen Presse-Agentur.

Doch schon am 5. März erreichte die österreichischen Behörden eine Meldung aus Island. 15 Menschen seien positiv auf das Coronavirus getestet worden, ihre Rückreise liege bereits einige Tage zurück.

Island erklärt Ischgl zum Risikogebiet, die Tiroler Behörden aber nehmen an, dass es im Flugzeug und nicht im Land zur Ansteckung kam.

In den Skigebieten wird tagelang weiter gefeiert. Dann, am 13. März, wird über Ischgl und dem Paznauntal eine Quarantäne verhängt, allerdings mit der Möglichkeit für Touristen - und damit auch für das Virus - das Tal zu verlassen. Die Lifte stehen ab dem 16. März still.

Dem österreichischen Verbraucherschützer Peter Kolba liegen inzwischen mehr als 4000 Meldungen von Menschen vor, die angeben, sich im März in Tirol mit dem Coronavirus infiziert zu haben. Mehr als 70 Prozent dieser Meldungen kämen aus Deutschland. Und die Mehrzahl der Menschen gebe an, in Ischgl gewesen zu sein. «Unser Hauptfokus liegt auf den Behörden, die - so unser Verdacht - langsam gehandelt haben. Wir unterstellen, dass das aus kommerziellen Überlegungen so war», sagt Kolba kürzlich dem «Standard».

«Ich glaube, dass es dringend notwendig ist, zum richtigen Zeitpunkt das Ganze unabhängig aufzuarbeiten», sagt Ingrid Felipe (Grüne). Sie ist stellvertretende Landeschefin in Tirol und stört sich am Pauschalurteil, dem das Land derzeit ausgesetzt sei. «Es kann sein, dass es Einzelne gibt, die diese Kritik verdient haben. Aber man erwischt auch viele, die das nicht verursacht haben können.»

Bei Dorfarzt Walser kommen die Anschuldigungen, dass Ischgl für die Ausbreitung des Coronavirus und damit das Leid vieler Menschen verantwortlich sei, ebenfalls immer wieder an. «Auch wir haben das Virus geerbt, und auch uns hat dieses Virus getroffen wie aus heiterem Himmel», meint er. «Das ist uns einfach passiert und wir haben dann versucht, mit allen Mittel darauf zu reagieren unter den Vorgaben der Behörden.» In Ischgl sei es wie in anderen

Touristenhochburgen: viele internationale Besucher, reger Verkehr auf sehr kleinen Raum. Im kleinen Tiroler Bezirk Landeck, zu dem auch das Paznauntal zählt, gibt es rund 800 Corona-Fälle - im Verhältnis zur Einwohnerzahl ein trauriger Spitzenwert in Österreich.

«Die Neuinfektionen (in Ischgl) reduzieren sich zunehmend», erklärt Walser. «Man spürt in Tirol ein dezentes Aufatmen», sagt Landespolitikerin Felipe. Die Quarantäne für alle Tiroler Gemeinden wurde daher aufgehoben - mit Ausnahme von St. Anton, Sölden und dem Paznauntal, allesamt bekannte Wintersport-Gebiete.

Doch wie kann die Zukunft für das Land Tirol und den Tourismus aussehen? Landespolitikerin Felipe hofft auf einen Lerneffekt für den Tourismus. «Ich glaube schon länger, dass der Tiroler Tourismus sich viel stärker in Richtung eines klimafreundlichen, naturnahen, weniger auf Hüttengaudi und Après Ski und Pistenkilometer ausgelegten Tourismus entwickeln sollte.» Der Krise nun mit großen Bauprojekten begegnen, um im nächsten Winter mit noch mehr Pistenkilometern werben zu können, hält sie nicht für zielführend. «Ich weiß nicht, ob man jetzt, nach so einem Ereignis, dafür Reserven locker machen kann.»

Darüber hinaus hofft sie auf eine etwas rücksichtsvollere Gesellschaft. Es sei jetzt sehr bewusst geworden, dass Menschen, die Husten haben oder verkühlt sind, sich auch wirklich zurückziehen sollten. «Das geht ja in die Selbstausbeutung, dass viele von uns nicht zu Hause bleiben, selbst wenn sie erkältet sind.» dpa