Lange hat der Bund zugeschaut, wie unterschiedlich die Länder gemeinsam getroffene Corona-Beschlüsse interpretierten: Hier Schulen auf, dort zu, hier Ausgangsbeschränkungen, dort nur ein nächtliches Freunde-Treff-Verbot. Die dritte Infektionswelle rollt, alle sprechen von einer «Notbremse» - doch treten unterschiedlich fest aufs Pedal. «Wenn manche schon die Einschätzung der Lage nicht teilen, dann wird es natürlich schwierig», sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (Foto). Wenige Stunden später ist klar: Der Bund greift ein, die Anti-Corona-Maßnahmen werden vereinheitlicht.
Es geht um die zentrale Frage: Was passiert, wenn in Landkreisen die Sieben-Tage-Inzidenz auf mehr als 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner steigt? Das soll jetzt in Windeseile - möglichst schon kommende Woche - gesetzlich geregelt werden. Länder und Landkreise könnten dann keine Ausflüchte mehr finden, warum die Notbremse ausgerechnet in ihrem Fall unnötig sein sollte. Nach derzeitigem Stand wäre etwas mehr als die Hälfte aller Kreise von den Maßnahmen betroffen.
Doch was soll drin stehen im neuen Infektionsschutzgesetz? Einen ersten Vorschlag, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, schickte der Bund am Samstag an die Fraktionen und Länder. Stellungnahme noch am Sonntag erbeten. Über Folgendes wird jetzt debattiert:
PRIVATE KONTAKTE: Dass Treffen in der Öffentlichkeit und auch zuhause eingeschränkt bleiben, scheint klar. Wissenschaftlichen Studien zufolge gehören strenge Kontaktbeschränkungen zu den wirksamsten aller Corona-Maßnahmen und reduzieren die Verbreitung des Virus geschätzt um bis zu ein Viertel. Künftig könnte überall wieder eine schon bekannte Regel gelten: Ein Haushalt darf sich maximal mit einer weiteren Person treffen, Kinder rausgerechnet dürfen es maximal fünf Personen sein.
AUSGANGSBESCHRÄNKUNGEN: In einigen Landkreisen gibt es bereits Einschränkungen, wenn man nachts das Haus verlassen will - doch sie sind sehr unterschiedlich. Im Gespräch ist nun eine einheitliche Ausgangsbeschränkung von 21 bis 5 Uhr. Ausnahmen könnte es etwa für medizinische Notfälle und den Weg zur Arbeit geben, wohl aber eher nicht für Spaziergänge oder Joggen in der Dunkelheit. Forscher der Universität Oxford gehen davon aus, dass nächtliche Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung des Virus um rund 13 Prozent reduzieren können. Berliner Wissenschaftler warnen allerdings, dass sich die Menschen schon bald einfach zu anderen Zeiten treffen werden. Daher könne dieses Werkzeug «relativ schnell stumpf werden».
SCHULEN UND BÜROS: Im Gespräch ist, dass Schulen nur dann regulär öffnen dürfen, wenn alle Schülerinnen und Schüler mindestens zweimal pro Woche getestet werden. Ab einer 200er-Inzidenz sollen die Schulen zumachen - Ausnahmen könnten die Länder für Notbetreuung und Abschlussklassen machen.
Auch für die Büros wäre eine Testpflicht denkbar, sie ist jedoch in der Bundesregierung stark umstritten: Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) ist dafür, Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) bremst. Im ersten Entwurf ist keine Testpflicht für Unternehmen vorgesehen.
Auf die Schnell- und Selbsttests kann man sich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ohnehin nicht hundertprozentig verlassen. «Selbsttests sind keine Wunderwaffe», sagte der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, bereits im Februar. Ein negatives Ergebnis ist nämlich eine reine Momentaufnahme und schließt eine Infektion nicht grundsätzlich aus. Selbst bei korrekter Anwendung der Tests sei es «lediglich weniger wahrscheinlich» zu diesem Zeitpunkt für andere ansteckend zu sein, so das RKI.
Vor allem bei Infizierten, die keine Symptome wie etwa Fieber oder Husten zeigen, besteht durchaus die Gefahr, dass sie falsche Ergebnisse erhalten. Ein Team des internationalen Cochrane-Netzwerks fand heraus, dass bei zwei untersuchten Schnelltest-Produkten im Schnitt 72 Prozent der Patienten mit Symptomen korrekt erkannt wurden, jedoch nur 58 Prozent der ohne Symptome. Was jedoch niemand genau weiß: Ob diejenigen mit falsch-negativem Ergebnis überhaupt für andere ansteckend gewesen wären oder nicht.
LÄDEN: Es ist abzusehen, dass Modellprojekte mit Ladenöffnungen für Getestete in Landkreisen mit hohen Infektionszahlen gestoppt werden müssen. Nach ersten Überlegungen sollen ab der 100er-Inzidenz wieder nur noch Supermärkte, Getränkemärkte, Apotheken, Drogerien und Tankstellen öffnen dürfen - aber auch Buchhändler, Blumenläden und Gartenmärkte.
FREIZEIT UND SPORT: Auch hier müssen sich wohl einige Landkreise von Öffnungsplänen etwa für Theater verabschieden. Der Entwurf des Bundes sieht vor, dass nicht nur Konzerthäuser, Bühnen und Kinos geschlossen bleiben, sondern auch Museen, Schwimmbäder, Zoos und botanische Gärten. Seilbahnen und Ausflugsschiffe könnten stillstehen und auch Stadt- und Naturführungen untersagt sein. Sport könnte nach den ersten Überlegungen bundesweit nur noch alleine, zu zweit oder mit dem eigenen Haushalt erlaubt sein, auch wieder für Kinder und Jugendliche. Ausnahme: Wettkampf und Training von Leistungssportlern.
TOURISMUS UND GASTRONOMIE: Hier gab es bis zuletzt die wenigsten Öffnungen - und es sind wohl auch keine in Sicht. Restaurants, Kneipen, Hotels und Ferienwohnungen müssen wahrscheinlich zubleiben.
LOCKDOWN-LÄNGE: Die im Gesetz geregelten Maßnahmen sollen so lange gelten, bis ein Landkreis an drei aufeinanderfolgenden Tagen unter die 100er-Inzidenz rutscht. Zwischen wenigen Tagen und mehreren Monaten ist also alles drin. Experten wie der wissenschaftliche Leiter des Intensivbetten-Registers Divi, Christian Karagiannidis, hatten zuletzt für einen harten Lockdown von zwei Wochen plädiert. Die Virologin Melanie Brinkmann vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung sagte: «Je stärker alle auf die Bremse treten, desto kürzer währt der Lockdown.» Innerhalb von vier Wochen bekomme man die Fallzahlen massiv runter, wenn die Menschen kaum Kontakte hätten. Die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek hält das für zu kurz. Im NDR-Podcast verwies sie jüngst auf RKI-Simulationen und sagte, «dass vier Wochen nicht reichen, um dieses Infektionsgeschehen groß zu verändern». Vorsichtige Lockerungen seien erst im Mai und Juni möglich mit einer langsamen Steigerung bis in den Spätsommer. dpa