Von Michael Zehender
Torstein Gaustad löst Alarm aus. Nordlicht-Alarm. Noch ist da nur ein grüner Schimmer am Horizont. Doch die Passagiere der "Kong Harald" haben auf die Durchsage sehnsüchtig gewartet. Viele lassen ihren Rinderbraten im Restaurant stehen, laufen in die Kabine, um Jacke, Mütze und Handschuhe zu holen, und gehen nach draußen aufs Promenadendeck, Backbordseite, so wie es Expeditionsleiter Gaustad geraten hat. Die Profis bauen ihr Stativ auf, andere begnügen sich mit einem verwackelten grünen Streifen auf dem Smartphone.
Fast alle sind absichtlich im Winter auf diese Reise mit Hurtigruten entlang der norwegischen Küste aufgebrochen, um das berühmte Himmelsphänomen zu sehen. "Wegen der Nordlichter", sagt das Ehepaar aus Großbritannien. Die alleinstehende Frau aus Australien: "Ich wollte einmal in meinem Leben die Nordlichter sehen und die Kälte erleben. In Australien haben wir derzeit 40 Grad Hitze." Auch Japaner sind dabei. "Sie glauben, dass es besonderes Glück bringt, unter dem Nordlicht ein Kind zu zeugen", erklärt Gaustad. "Dementsprechend rennen nur die älteren japanischen Passagiere bei Nordlicht-Alarm aufs Deck, die jüngeren rennen in entgegengesetzte Richtung." Auf dieser Reise sind offenbar nur ältere Japaner an Bord.
Auch für Gaustad, der seit sechs Jahren auf den Hurtigruten-Schiffen fährt, sind die Nordlichter immer noch etwas ganz Spezielles. In klaren Nächten schaut er oft in den Himmel und gibt dann den ersehnten Alarm. "Wir sagen den Gästen immer: Ja, ihr könnt natürlich Fotos machen. Aber konzentriert euch nicht zu sehr darauf. Es ist viel wichtiger, dass ihr dieses Erlebnis einfach in euch aufnehmt."
In der ersten Nacht hier oben nördlich des Polarkreises, wo es die Nordlichter in der Regel überhaupt nur gibt, ist die Ausbeute noch nicht so ergiebig. Das ändert sich in der darauffolgenden. Gaustad hört mit dem Nordlicht-Alarm gar nicht mehr auf. Und jetzt ist es nicht mehr nur ein grünes Schimmern, sondern ein echter Farbentanz, von Gelb über Grün bis Blau und Lila. Wer das gesehen hat, vergisst es so schnell nicht.
In dieser Nacht auf dem Weg zwischen Tromsö und Honningsvag stehen die Passagiere noch lange an Deck. Die Hurtigruten-Mitarbeiter zitieren gerne einen Spruch aus Nordnorwegen: Schlafen kannst du im Süden. Nur, wer es vor lauter Kälte gar nicht mehr aushält, verzieht sich in die Aussichtslounge. Doch wer im Winter auf diese Seereise geht, weiß eigentlich, worauf er sich einlässt und ist gerüstet: mit Funktionskleidung, Thermounterwäsche, Mützen und Handschuhen. Da kann einem selbst der Fahrtwind bei minus zwölf Grad nichts anhaben.
Am Tag das gleiche Bild: dick vermummte Gestalten auf dem Promenadendeck 5, entweder mit Kamera im Anschlag oder einfach der Nase im Wind. Das Schiff bietet keine große Ablenkung. Wer ein Spa, eine Kletterwand oder ein Theater wie auf einem normalen Kreuzfahrtschiff sucht, wird bei Hurtigruten nicht fündig. Nur einen kleinen Raum mit ein paar Fitnessgeräten gibt es auf der "Kong Harald", tief unten im Schiffsbauch eine kleine Sauna, die den Charme des heimischen Hobbykellers versprüht. Natürlich gibt es gutes, meist regionales Essen, und das Expeditionsteam bietet Vorträge an. Doch das ist es in Sachen Bordunterhaltung. Wofür bräuchte man sie auch? Sie würde nur ablenken. Selbst die mitgebrachten Bücher bleiben während der Fahrt bei den meisten unangetastet im Koffer.
Und so steht man an Deck, im Februar, und kann sich nichts Schöneres vorstellen als das Farbenspiel zu beobachten: Wenn es am Morgen nach der Nacht mit Polarlichtern langsam hell wird, sich die Sonne aber noch lange Zeit lässt und dieses ganz besondere magische Licht der blauen Stunde produziert. Die tief verschneiten Berge erstrahlen in rosa-rotfarbenen Tönen, darüber der Himmel in allen Blauschattierungen, dazu die immer noch hell erleuchteten kleinen Städte, in denen die "Kong Harald" anlegt, und das Schwarz der Fjorde, durch die sich das Schiff fast lautlos fortbewegt.
Zweimal am Tag kommt es zur Begegnung zweier Hurtigruten-Schiffe, des nordwärts und des südwärts fahrenden. Über die Lautsprecher weist die Besatzung darauf hin. Dreimal lautes Tuten aus dem Schiffshorn der "Kong Harald", in der Nacht verbunden mit Scheinwerferleuchten, dreimal lautes Tuten des entgegenkommenden Schiffs.
Meist im Abstand von zwei bis drei Stunden legt die "Kong Harald" nach einem festen und für alle Schiffe gleichen Fahrplan in den Städten entlang der Route an. Das Schauspiel ist dann fast immer das Gleiche: Passagierluke und Frachtluke öffnen automatisch, Passagiere steigen aus und ein. Fracht wird ausgeladen, neue eingeladen. Selten dauern die Stopps länger als 15 Minuten. Zum Aussteigen und Bummeln im Ort ist das zu wenig.
Längere Aufenthalte gibt es nur in größeren Städten wie Tromsö. Dort stehen geführte Wanderungen oder im Winter auch Hundeschlittentouren auf dem Programm. Ein ohrenbetäubendes Geheule und Gejaule herrscht im Villmarkssenter etwas außerhalb der Stadt. 300 Huskys leben hier. Sie kamen teilweise schon bei so berühmten Rennen wie dem Iditarod in Alaska zum Einsatz. In ihrer Heimat ziehen sie im Winter vor allem Touristen durch die verschneiten Wälder und über zugefrorene Seen. Ein ganz besonderes Erlebnis, trotz des Lärmpegels, der Kälte und den Hubbeln im Gelände, die den Schlitten immer wieder kräftig ins Wanken bringen. Doch die professionellen Schlittenführer haben ihre Tiere und das Gefährt im Griff.
Und dann ist es ganz nahe, das Ende der Welt - zumindest das Ende von Europa. Etwas mehr als 30 Kilometer Fahrstrecke sind es noch vom Hafen Honningsvag aus bis zum Nordkap. Schon die Busfahrt über die vereiste und verschneite Straße aus der kleinen Stadt hinaus in die Berge ist ein Erlebnis. "Keine Sorge, unser Fahrer macht das schon seit 30 Jahren, er ist der beste auf Eis und Schnee", beruhigt der Tourguide. Also zurücklehnen und die - zumindest wie bei dem strahlenden Sonnenschein an diesem Tag - tolle Aussicht auf die kleinen Fjorde genießen. Auf einem zugefrorenen See stehen Zelte von Eisfischern.
Das letzte Drittel der Strecke ist durch Schneeverwehungen oft so gefährlich, dass die Durchfahrt im Winter nur im Konvoi hinter einem Schneepflug erlaubt ist. An diesem Tag haben sich neben den Passagieren der "Kong Harald" noch zwei Privatautos am Sammelpunkt eingefunden. Entsprechend leer ist es an Europa nördlichstem Punkt, der vor allem im Sommer ganz schön überlaufen sein kann.
Für etliche Mitglieder der Gruppe ist das Nordkap ein langgehegter Traum. Manchen stehen Tränen in den Augen, als sie von der bekannten Globus-Skulptur aus in die Ferne blicken, und das nicht nur wegen des eisigen Windes. Einige reißen die Arme nach oben und lassen sich quasi mit der Weltkugel in den Armen fotografieren. Andere genießen den Moment in Stille mit ihrem Partner. Nur noch Spitzbergen und rund 2100 Kilometer trennen die Gruppe hier vom Nordpol.
Nach diesem Erlebnis ist für viele die Reise fast vorbei. Sie steigen am nächsten Morgen in Kirkenes aus. Vorbei ist es auch vorerst mit den guten Aussichten auf Polarlichter. Nach der Abfahrt in Honningsvag beginnt es kräftig zu schneien. Der Wind peitscht die Schneeflocken gegen die Kabinenfenster und hinterlässt Spuren an Deck: Am Morgen darauf ist Schneeschippen angesagt. Auch das gehört bei einer Winterreise auf den Hurtigruten dazu. dpa
Info: Norwegen-Kreuzfahrt im Winter
Reisezeit: Polarlichter sind zwischen September und Ende März zu beobachten, vor allem in der Region rund um den 70. Breitengrad. Die Schiffe der Hurtigruten verkehren jedoch das ganze Jahr täglich nach einem festen Fahrplan. Im Sommer ist die Mitternachtssonne eine Besonderheit.
Hurtigruten: Seit 125 Jahren verbinden die Postschiffe die Orte entlang der norwegischen Küste. Startpunkt der Reise ist Bergen, Ziel nach sieben Tagen Kirkenes. Viele Touristen fahren auch die komplette Route wieder zurück nach Bergen. Man kann in jedem der im Winter 34 Häfen ein- und aussteigen, was vor allem zahlreiche Einheimische nutzen. Neben Passagieren werden auch Fracht und Autos transportiert.
Schiffe: Rund ein Dutzend Schiffe verkehrt auf der klassischen Postschifflinie, darunter die "Lofoten" aus dem Jahr 1964, die fast schon musealen Charakter besitzt. Die anderen Schiffe mit Ausnahme der "Vesteralen" (1983) stammen alle aus den 1990ern oder 2000ern und sind mit einem entsprechenden Komfort ausgestattet, zum Beispiel gibt es hier auch Suiten. Dennoch sind Komfort und Einrichtung nicht mit modernen Kreuzfahrtschiffen zu vergleichen. Die "Kong Harald" wurde 1993 gebaut und 2016 renoviert.
Preise: Die zwölftägige Seereise kostet in der Regel um die 1200 Euro pro Person. www.hurtigruten.com