Gastronomie der Zukunft

Von Christian Volbracht

Sternekoch Denis Martin vom Genfer See serviert ein Dessert in Luftballons. Sie werden in Stickstoff geschrumpft, blähen sich auf dem Teller von selbst wieder auf und werden mit einer Nadel zum Platzen gebracht: Mit einem Knalleffekt landet Schokolade vor dem Gast. Der Schweizer Kochzauberer zeigt, wie moderne Gastronomen die Kochkunst als Unterhaltung präsentieren.

Bei der fünften «Chef-Sache», dem wichtigsten internationalen Köchetreffen in Deutschland, ging es vor wenigen Tagen im Kölner Staatenhaus um die Zukunft der gehobenen Gastronomie. Der Küchenkritiker Jürgen Dollase prophezeit das Ende der heutigen Spitzengastronomie mit ihren stilvollen und bürgerlich-steifen Gourmettempeln: «Sie wird mit ihrem älter werdenden Publikum einfach aussterben.» Viele verschiedene Restaurantformate würden stattdessen entstehen, mit individuellen Stilen und verschiedenen Preisniveaus.

Da junge Leute Blutwurst mit Apfelkompott und Kartoffelbrei verschmähen, bietet Denis Martin sie auf avantgardistische Weise: Die Wurst wird zu Pulver gefriergetrocknet, auf kleine Portionen Kartoffelbrei gestreut und mit Kügelchen aus Apfelmus serviert. «Das essen sie!», freut sich der Schweizer.

Er hat auch «Brieftaube» im Programm: Taubenbrust kommt mit Soße und Gewürzen in den Vakuumbeutel und in einen Briefumschlag und dann zwölf Sekunden in die Mikrowelle. Der Gast öffnet den Umschlag selbst auf dem Teller.

Von der in Spanien erfundenen Molekularküche spricht kaum noch jemand. Ihre Methoden zur Herstellung von Pülverchen, Schäumen, Geleekugeln und in flüssigem Stickstoff gekühlten und getrockneten Zutaten werden angewendet, ohne dass sich irgendwer als Molekularkoch etikettiert.

Die aktuellste Tendenz zur Gewinnung neuer Geschmacksreize seien biotechnologische Verfahren, sagt Ben Reade, der für das «Nordic Food Lab» in Kopenhagen arbeitet: Das Zauberwort heißt Fermentation, die Veränderung von Nahrungsmitteln mit Enzymen und Bakterien. So entsteht seit jeher auch Sauerkraut, doch jetzt haben eifrig Versuche mit anderen Nahrungsmitteln begonnen. Beim Japaner Yoshihiro Nasiwara ist es Fleisch. René Redzepi, der Vorreiter der neuen nordischen Regionalküche, nutzt die Milchsäuregärung auch für Steinpilze oder Johannisbeeren.

Redzepi (unteres Foto) ließ Hunderte Besucher in Köln eine Paste aus fermentierten Heuschrecken probieren und verriet erst danach, um was es sich handelte. In seinem Restaurant würzt er damit gegrillte Fischköpfe, die mit wilden Strandkräutern von der Küste gegessen werden. Danach ließ Redzepi eine säuerliche Kostprobe aus pürierten dänischen Waldameisen verteilen.

«Warum keine Insekten essen? Wer Pilze isst, hat schon unzählige Würmer verspeist», tröstet der Koch. Als Alternative zum Fleisch lässt Redzepi Rote Bete so lange im Backofen eintrocknen, bis sie ganz ähnlich wie ein Braten schmecken.

«Abgefahrene Sachen» präsentiert auch Thorsten Schmidt (Foto oben mit Ralf Bos) aus Aarhus in Dänemark. Er will den Gast in den Kochvorgang einbinden, ihn unterhaltsam Neues entdecken lassen. So bereitet er ein Eisdessert gemeinsam mit dem Gast am Tisch, lässt ihn die Zutaten wählen und schlägt als Knalleffekt zum Schluss ein «Ei» darüber, das aus Buttermilch und gelbem Sanddorngelee besteht.

Die deutsche Drei-Sterne-Riege beeindruckt mit kleinen Esslandschaften, die artistisch mit der Pinzette auf die Teller drapiert werden. Joachim Wissler aus Bergisch-Gladbach, der im Frühjahr in London von einer Fachjury zum zehntbesten Koch der Welt gekürt wurde, verwendet dabei in Salzlake gepickelte Rosenblätter. Er serviert auch Pudding aus Roggenmilch, formt kleine Baumblätter aus Lakritzpaste und legt seinen Gäste das nussige Kerngehäuse von Honigmelonen mit auf den Teller.

Christian Bau aus Perl nutzt viele asiatischen Zutaten, Thomas Bühner aus Osnabrück Getreidekörner und Gemüse in all seinen Bestandteilen. Sven Elverfeld aus Wolfsburg erfindet einfache deutsche Hausmannskost neu: Hering in Holunderblütenmarinade mit Pumpernickelcreme. Der Patissier Pierre Lingelser aus Baiersbronn stellt die Elemente der Schwarzwälder Kirschtorte neu zusammen und gibt getrocknete Schinkenchips mit Kirschwasseraroma dazu.

Auch Redzepi meint, das traditionelle Restaurant, in dem man speist wie bei den Royals, habe ausgedient. «Die Gesellschaft wandelt sich einfach.» Bei ihm kostet ein Menü zwar 200 Euro, aber er träumt von einem «Ess-Haus», wo es handwerklich zubereitete Kreationen für möglichst viele Menschen und für möglichst wenig Geld gibt.

Die Köche sind sich einig, dass man die Gäste faszinieren muss, sie aber auch nicht durch allzu komplizierte Speisen überfordern darf. Die Spitzenküche müsse innovativ, aber geschmacklich nachvollziehbar sein, sagt Elverfeld. Genieße den Augenblick und denke nicht schon wieder an den nächsten Tag, rät Thorsten Schmidt seinen Gästen. Das gelingt allerdings nur, wenn es auch schmeckt. dpa

Die Sieger der Chef-Sache Awards