Von Chris Melzer
Es sieht ein bisschen aus wie Skandinavien. Kleine Holzhäuser stehen auf winzigen Inselchen, hinter dem Wasser beginnt am Ufer endloser Wald, und nur hin und wieder sind Menschen zu sehen. Vor fast jedem Häuschen steht ein Fahnenmast, doch statt blau und gelb ist die Flagge rot und weiß - Kanada. "Thousand Islands" ist nicht nur eine Salatsoße, es gibt die Region wirklich. Und obwohl sie nur ein paar Autostunden von Toronto entfernt liegt und die Schönheit ihrer Landschaft Bildbände füllt, ist sie unter europäischen Touristen noch ein Geheimtipp.
Wer die Schönheit der Inseln genießen will, sollte es vom Boot aus machen. Die Ausflugsdampfer der Gananoque Boat Line schlängeln sich an den Inseln vorbei und überschreiten dabei ständig die Staatsgrenze. "Kanada hat mehr Inseln, die USA aber die größeren. Nach der Fläche haben beide gleich viel", sagt der Kapitän über die Lautsprecher. Er erklärt auch, wann eine Insel eine Insel ist: "Sie muss das ganze Jahr über Wasser sein. Sie muss mindestens einen Quadratfuß groß sein. Und auf ihr müssen mindestens zwei Bäume stehen." Entsprechend schwankt die Zahl der Inseln, sie liegt aber bei mehr als 1860.
Die Inseln sind entweder unbewohnt oder es steht nur ein Häuschen drauf. Einige Inselchen sind mit einer Brücke verbunden, und die geht in einem Fall, obwohl nur ein paar Meter breit, über die Staatsgrenze. Links und rechts ist eine Fahne an der Brücke, aber Reisepässe kontrolliert hier niemand.
Das ist auf Heart Island anders. Es ist die meistfotografierte der Inseln, denn hier steht Boldt Castle. George Boldt, ein auf Rügen geborener Hotelier, der in New York die Häuser Waldorf und Astoria vereinte, hat hier Anfang des vorigen Jahrhunderts ein gewaltiges Schloss bauen lassen, inklusive Grotten und eines Wasserschlösschens, in dem ein Kraftwerk untergebracht ist. Denn Boldt Castle hat Strom und ist innen ganz modern. Neuschwanstein im St. Lawrence.
Noch weiter ging Frederick Gilbert Bourne. Der Chef des Singer-Nähmaschinenwerkes ließ in sein Schloss sogar Geheimgänge und Verliese bauen, wie er es in Romanen gelesen hatte. Singer Castle liegt wie Bold Castle in den USA. Wer das Ausflugsboot von Kanada aus nimmt, muss an den Reisepass denken.
Gananoque hat zwar gerade einmal 5000 Einwohner, ist aber so etwas wie die inoffizielle Hauptstadt der Region. Die Aussprache ist nicht ganz einfach und korrekt klingt es wie Gännänockkwee. "Es gibt eine Eselsbrücke", sagt Cody Webster, der in dem Städtchen aufwuchs: "The right way, the wrong way, and Gananoque". Die Hilfe ist für viele Kanadier selbst gedacht, denn fast alle Urlauber hier kommen aus dem eigenen Land oder den USA, und mit der Aussprache haben viele Probleme. Es bedeutet "Stadt der zwei Flüsse", weil hier der Gananoque-River in den mächtigen Sankt-Lorenz-Strom mündet, und kommt aus der Sprache der Indianer.
Die nennt man in Kanada "First Nations", und Marilyn Paxton Deline gehört dazu. Sie ist Mohawk und hat einen Laden, der indianisches Handwerk und Kunst verkauft. "Alles hier habe ich von den Produzenten selbst gekauft, da legen die und ich großen Wert drauf", beteuert sie. Im Sommer veranstaltet sie "Mini-Pow-Wows", um indianische Kultur zu pflegen. "Touristen sind herzlich willkommen. Wir freuen uns über jeden, der sich für unsere Tradition interessiert. Sie sollten allerdings wissen, dass wir das nicht für sie tun, sondern für uns."
Knapp 600 000 Indianer leben in Kanada - aber viele verstehen sich nicht als Kanadier. "Ich bin Tochter meines Stammes, ich bin Mohawk!", sagt Marilyn fast empört. "Die Europäer sind hierhergekommen und haben uns ein kleines Stück von dem gelassen, was uns gehörte."
Mitten im Städtchen steht im Park ein altes buntes Piano mit der Aufschrift "Play Me!". Sheila Burtch sitzt oft daran und erfreut die Besucher des Farmers Market mit alten Volksliedern. "Wenn man bedenkt, wie klein unsere Stadt ist, haben wir jede Menge Kultur", sagt die Musikerin und Radiomoderatorin. "Zwei Theater, mehrere Chöre, im Sommer ständig Konzerte - das kann sich doch sehen lassen." Außerdem sei die Umgebung wunderschön. "Also mir wurde hier noch nie langweilig."
Die größte Stadt der Region ist Kingston, doch auch sie hat nur 120 000 Einwohner. Fast 25 000 davon sind Studenten. Das merkt man der Stadt an, deren berühmtester Sohn Bryan Adams ist: Die Zahl der Cafés und einfachen Kneipen ist überdurchschnittlich. Den besten Blick auf die Stadt hat man von Fort Henry. Die Festung ist im besten Zustand, und man erwartet jede Sekunde, dass Soldaten vorbeiparadieren. Und das passiert auch: Fort Henry hat ein einzigartiges Regiment, das nur aus freiwilligen Laien besteht.
"Wir sind eine Art Cirque du Soleil, aber mit Gewehren", sagt Leftenant Colonel Mark Bennett. Bennett ist der Chef der 73-köpfigen Truppe, die zu den besten Exerzierteams der Welt zählt - aber nichts mit dem Militär zu tun hat. "Wir gehören zum Tourismus-, nicht zum Verteidigungsministerium. Einen militärischen Hintergrund hat hier praktisch keiner."
Dennoch sitzen Kommandos, Waffen und Uniformen perfekt. Alles ist von Historikern dem Jahr 1867 angepasst. "Es ist das beste Training, das man sich vorstellen kann", sagt Jackie Tessier. Die junge Frau ist Lance Corporal, eigentlich aber Studentin. Und Fußballerin, sogar in der Studenten-Nationalmannschaft. "Wir laufen für die Touristen manchmal im Stechschritt 20 Kilometer am Tag über den Festungshof. Nach einem Sommer hier bin ich in der Mannschaft immer die fitteste."
Die Salatsoße "Thousand Islands" ist zwar nach der Region benannt, aber wo sie nun herkommt, weiß keiner so genau. Die Fischersfrau Sophia LaLonde soll sie erfunden haben, Hotelier Boldt machte sie in New York berühmt. Vielleicht entstand das Dressing aber auch in New York. Es soll May Irwin, die 1896 als Schauspielerin mit dem ersten Kuss in einem Film Kinogeschichte schrieb, gewesen sein, die der Soße ihren Namen gab. Denn die Schnittlauch- und Petersilienstückchen sollen sie an die vielen Inseln in ihrer Heimat erinnert haben.
"Unsere Küche hier ist sehr bodenständig", sagt Shannon Treanor. Die Küche der Indianer habe sich mit denen der Einwanderer vermischt, Shannons Vorfahren kamen aus Mecklenburg. "Hier gibt es vor allem Landwirte und die essen kräftig. Die Bio-Welle ist hier noch nicht ganz angekommen."
Treanor betreibt mit ihrem Bruder und einem Freund ein Café und ein Restaurant direkt am Stadtpark namens "The Socialist Pig". "Schweine waren immer meine Lieblingstiere", erzählt sie. "Und ich wollte immer ein Café mit einem großen Tisch, an dem alle ins Gespräch kommen. Als wir den bauten, sagte mein Bruder: "Gott, alle an einem Tisch. Wir sind Sozialisten!" So hatte das Café den Namen weg." Anfangs habe kein Mensch an dem großen Tisch in der Mitte sitzen wollen. "Jetzt ist er immer als erstes belegt."
Thousand Islands bietet aber noch etwas, was man in Kanada nicht gleich erwartet: Wein. "Für einige Rebsorten ist es zu kalt und richtig viel wird es nicht. Aber der Wein ist wirklich gut", beteuert Debrah Marshall von der Eagle Point Winery. Gerade einmal 60 000 Flaschen im Jahr produziert sie. Debrahs Vorfahren kamen aus Deutschland und hießen Deinhard. "Ja, in mir fließt Blut der berühmten Kellerei. Da lag es nahe, es irgendwann selbst mit Wein zu versuchen." Im Massenmarkt hätten kanadische Weinberge aber keine Chance.
Das Gewirr der Inseln wird aus der Luft erst richtig deutlich. "Kein Wunder, dass während des Alkoholverbots in den USA hier so viele Schmuggler unterwegs waren wie heute Touristen", sagt Ken Saumure. Früher flog er Hubschrauber in der kanadischen Marine und für die Vereinten Nationen, heute auf eigene Rechnung. "Der Hubschrauber ist perfekt, um die 1000 Inseln zu erkunden", schwärmt er. "Und man schafft es in 20 Minuten!"
Billig ist der Spaß nicht. "Aber die Erinnerung bleibt ein Leben lang." Um die ein bisschen aufzufrischen, bekommt zum Schluss jeder einen USB-Stick mit den Bildern, die die Bordkamera während des Flugs gemacht hat. "Das ist schön, aber eigentlich nicht nötig", sagt der Pilot. "Denn wer einmal hier war, kommt wieder."
Thousand Islands
Anreise: Am einfachsten ist ein Flug nach Toronto. Von der größten Stadt Kanadas aus sind es nur drei Stunden mit dem Auto. Möglich ist auch eine Autofahrt von New
York aus. Die Strecke ist zwar doppelt so lang, aber auch sehr interessant.
Reisezeit: Das Klima ist ähnlich wie in Deutschland, auch die Winter können mild und angenehm sein. Die beste Reisezeit ist aber der Sommer und der Herbst, wenn sich
die Blätter zum "Indian Summer" bunt färben.
Sprache: Thousand Islands liegt nahe an Quebec, aber im englischsprachigen Teil Kanadas. Viele Menschen sind mit beiden Sprachen vertraut, deutsche Hinweise gibt
es aber nur an den für Touristen besonders wichtigen Punkten.
Verkehr: In Kanada gilt das metrische System, die Höchstgeschwindigkeiten in den weißen eckigen Schildern sind also Kilometer, nicht Meilen pro Stunde wie in den
USA. In den Städten gilt ein Tempolimit von zumeist 50, außerorts von 90 bis 100 km/h.
Informationen: Canadian Tourism Commission, c/o Travelmarketing Romberg, Schwarzbachstraße 32, 40822 Mettmann (Telefon 02104.9524110) dpa