Von Ursula Mommsen-Henneberger
Raus aus der Wohnung und rein in die freie Natur: im Matsch spielen, Regenwurm und Sperling beobachten, Fische angeln und wieder freisetzen oder Gewitter in den Bergen erleben.
Kinder brauchen solche sinnlichen Erfahrungen mit der lebendigen Umwelt, betont der US-Autor Richard Louv in seinem Buch «Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kinder die Natur zurück!». Kern seiner Botschaft ist: Zurück zur Natur ist ein entscheidender Schritt vorwärts zu einer rundum gesunden Entwicklung von Kindern.
Das vom Beltz-Verlag in deutscher Übersetzung vorgelegte aktualisierte Werk mit einem Vorwort des Hirnforschers Prof. Gerald Hüther soll seit seiner Erstveröffentlichung 2005 Denkanstöße für eine ökologische Erziehungs- und Bildungsreform geben. Angesprochen sind Eltern, Lehrer, Umweltschützer, Stadtplaner, Architekten, Politiker und Unternehmer.
Denn nach Beobachtung des amerikanischen Journalisten und Umweltaktivisten ist heute das Band zwischen Kindern und der Natur zerrissen. Er spricht von einer «Natur-Defizit-Störung».
Aus diesem Naturverlust entstünden körperliche und seelische Störungen, schreibt Louv unter Hinweis auf Studien und Gespräche mit Wissenschaftlern und Pädagogen. So verweist er auf die vielen übergewichtigen Jungen und Mädchen oder hyperaktiven Schüler mit Aufmerksamkeitsstörung (ADHS). Der Autor setzt auf die heilenden Kräfte der Natur - in Form von Erleben, Spüren mit allen Sinnen unter freiem Himmel.
Denn ein direkter Kontakt von Kindern zur natürlichen Wildnis und Fülle stärke ihr Selbstwertgefühl, ihre Persönlichkeit und intellektuelle Leistungsfähigkeit wie Lesekompetenz. Zudem: Nur wer schon früh eine enge Beziehung zur Natur aufbaue, werde auch als Erwachsener respektvoll und schützend mit ihr umgehen.
Dabei scheint Louv auf Grund seiner eigenen Erfahrungen in Amerika die Messlatte zunächst recht hoch zu legen: Hütten und Baumhäuser im Wald oder Begegnungen mit Puma oder Bär in der Wildnis - solche Abenteuer sind wohl in Deutschland heute kaum möglich. Doch dann entfaltet der Autor eine Fülle von Möglichkeiten, wie Kinder aus Stadt und Land wieder direkten Kontakt zur Natur bekommen können.
Denn für die Kleinen sind schon ein paar Bäume ein Wald, eine Pfütze wird zum Biotop, unter einem Stein wimmelt es von Käfern, und das Leben der Eichhörnchen lässt sich vor der Haustür beobachten.
Eltern rät Louv, selbst Vater von zwei Jungen, mit ihren Sprößlingen Gartenarbeit zu machen, zu wandern, zu zelten oder nächtliche Ausflüge zu unternehmen. Kinder sollten Freude und Spaß an der Natur haben und Staunen und Respekt zurückgewinnen. Viele Kinder hätten heute Angst im Zusammenhang mit der Umwelt, weil sie von Erwachsenen und Medien oft entweder als gefährlich oder als bedroht dargestellt werde.
Eine heilende Wirkung von freier, unverplanter Zeit in der Natur sieht Louv auch im Erleben stiller Momente. Dann spürten die Kinder, dass sie als Menschen nicht allein in der Welt seien und es Dimensionen jenseits der Zivilisation gebe.
Schulen und Universitäten sollten wieder das Fach Naturkunde lehren, wünscht sich der Autor. Der Unterricht sollte regelmäßig aus dem Klassenzimmer nach draußen verlegt werden. Louv empfiehlt Schulgärten oder Kontakte zu Bauernhöfen, wie dies Montessori- und Rudolf-Steiner-Schulen seit langem pflegen.
Der erste Teil des Buchs ist sehr amerikanisch geprägt; später wird auf die spezifische Situation in Deutschland eingegangen. Der umfangreiche Maßnahmenkatalog greift auf alte Traditionen von Naturerleben zurück, gibt aber auch Anregungen für neue Aktivitäten.
In Deutschland dürfte das Buch all jenen Auftrieb geben, die sich bereits für ein ökologisches Lernumfeld einsetzen. Dazu zählen die Initiatoren von Waldkindergärten oder jene, die sich für einen Umbau zubetonierter Schulhöfe zu einem grünem Zentrum des Schullebens engagieren. dpa
Richard Louv: Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück!, deutschsprachige Ausgabe 2011, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, Euro 19,95, ISBN 978-3-407-85934-1