Raue - Der Restaurantretter Interview mit Sternekoch Tim Raue

Von Julia Kilian

Berlin, noch vor dem Mittagessen. Sternekoch Tim Raue und seine Frau Katharina geben Interviews. Die beiden haben eine bekannte RTL-Sendung übernommen, die nun etwas anders heißt. In «Raue - Der Restaurantretter» wollen sie anderen aus der Gastroszene helfen. Nächste Woche (11. April) geht es los. Beim Gespräch erzählen die beiden, weshalb man mit Motivation mehr erreicht und welches Möbelstück einem Energie rauben kann.

Wenn Sie ein Restaurant betreten - gibt es etwas, was Sie direkt wieder umdrehen und gehen lässt?

Katharina Raue: Wir buchen uns eigentlich nie in Restaurants ein, von denen wir glauben, dass wir wieder rausgehen müssen. Wir lieben aber zum Beispiel in der Kantstraße ein Restaurant, das das hässlichste Restaurant Berlins ist. Die Auberginen mit Schwein sind die besten weltweit.

Tim Raue: Man muss sich das so vorstellen, als wäre es ein Raum, der in gedankenloser Langeweile eingerichtet wurde...

Katharina Raue: ...mit den hässlichen Möbeln der asiatischen Tante...

Tim Raue: ...ohne Herz und Leidenschaft. Und dann kommen Teller, die wie die schönsten chinesischen Blüten am Gaumen aufgehen und einen Wohlgeschmack und eine Intensität entfalten, die ihresgleichen suchen. Und dann vergisst man das Drumherum und fokussiert sich auf das, was schön ist. Oder noch besser: Man bestellt einfach bei denen.

In Ihrer neuen Sendung werden Sie nun die Nachfolger des RTL-Restauranttesters. Was ist ein typisches Problem, vor dem die Betreiberinnen und Betreiber oft stehen?

Katharina Raue: Ein typisches Problem ist, dass sie die Realität nicht anerkennen wollen. Dass sie in ihrer eigenen Blase leben und zwar wissen, dass sie Schwierigkeiten haben, diese aber so übermannend sind, dass sie zum Beispiel ihre Rechnungen gar nicht mehr aufmachen.

Tim Raue: Gastronomie ist auch deswegen eine enorme Herausforderung, weil es ein Handwerk ist, in dem du keinen Meisterbrief haben musst, um etwas aufzumachen. Es gibt ja dieses wunderbare Sprichwort: «Wer nichts wird, wird Wirt.» Gastronomie ist im Endeffekt wie Hardcore-Tetris. Ein Spiel, wo ganz viele Sachen auf dich zukommen. Im Restaurant musst du mit Mitarbeitern, frischen Lebensmitteln, Gästen und einer volatilen Auslastung umgehen. Und wenn du nicht darauf vorbereitet bist und kein fundiertes Wissen hast, dann lässt du es irgendwann geschehen. Und dann passiert es, dass sich Rechnungen stapeln, das Personal macht, was es will, entweder zu viele oder zu wenige Lebensmittel da sind.

Sie sprachen eben an, dass man keinen Meisterbrief braucht, um ein Restaurant aufzumachen. Wären Sie dafür, das zu ändern?

Tim Raue: Grundsätzlich bin ich dafür, dass man sich bewusst macht, auf was man sich einlässt. Was die meisten eben nicht machen, wenn sie den Laden aufmachen, ist, sich damit auseinanderzusetzen: Wo mache ich die Hütte auf? Was ist das Pro-Kopf-Einkommen? Was möchten die Menschen in meinem Kiez? So eine Auseinandersetzung gibt es meistens nicht, sondern ein: «Ich habe immer gerne gekocht. Und meine Freunde haben gesagt, das schmeckt gut. Und dann habe ich gedacht, da wird ein Laden frei und wir machen ein Restaurant.» Aaaargh.

(Während des Interviews erzählen die beiden, ihnen sei es wichtig, die Stärken der einzelnen Restaurants und Protagonisten herauszuarbeiten. Die Menschen seien am Ende wieder stolz auf das, was sie machten. «Wenn du den Leuten ein bisschen Selbstbewusstsein geben kannst, finde ich, ist unser Job schon echt gut gelungen», sagt Katharina Raue. Ein Aspekt, den auch Tim Raue mag.)

Tim Raue: Ich bin da ganz dankbar für, weil ich natürlich noch in einer Zeit in der Küche gelernt habe, wo es noch Schellen gab, wo nur mit Angst und absoluter Härte reagiert wurde. Da hieß es nicht: «Wenn du jetzt zwei Möhren perfekt schneidest, dann kriegst du einen Keks», sondern «Wenn du die zwei nicht perfekt schneidest, dann knalle ich dir dermaßen eine, dass du die nächsten zwei Tage schlecht hörst.» Das habe ich natürlich auch übernommen, war ein richtiges Arschloch als Chef und musste dann sehr, sehr viel Geld investieren in Therapien und Coaching, bis ich mich gewandelt habe. Und merke heute: Mit der Peitsche funktioniert gar nichts. Aber mit Motivation, Selbstwertgefühl. Die Leute stärken in dem, wo sie gut sind - und ihnen dann Möglichkeiten aufzeigen, das hilft schon.

In der Pandemie haben Sie viele Insolvenzen in der Gastronomie erwartet. Ganz so schlimm scheint es nicht gekommen zu sein. Wie geht es Ihrer Meinung nach weiter?

Tim Raue: Naja, es ist deswegen nicht so gekommen, weil die Maßnahmen der Regierungen aber auch in einem überproportionalen Rahmen für unsere Branche geschaffen wurden. Dann kam der nächste Schlag mit dem Krieg, der sich natürlich dramatisch ausgewirkt hat. Die Lieferketten haben sich verändert. Wenn Sie heute neue Gläser kaufen wollen, dann haben Sie keine Chance, was unter drei oder vier Monaten zu kriegen, wenn überhaupt. Jetzt müssen wir gucken, was die wirtschaftliche Lage mit uns macht.

Katharina Raue: Gastronomie wird teurer werden müssen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Im gleichen Zug werden die Leute weniger Geld ausgeben, weil einfach weniger Geld zur Verfügung ist. Und da geht die Schere auseinander.

Tim Raue: Wir hatten nichtsdestotrotz ein sehr erfolgreiches Jahr. Aber wir hatten - nehmen wir die Pandemiejahre mal aus - zum ersten Mal seit sieben oder acht Jahren unter der Woche keine Gäste auf der Warteliste. Bisher war das Restaurant nicht nur voll, sondern wir hatten Wartelisten mit nochmal genauso vielen Gästen. Wir mussten uns nie Sorgen machen, dass auch nur ein einziger Platz frei war. Und das war jetzt in der Vorweihnachtszeit - der eigentlich stärksten Zeit des Jahres - anders. Da merkst du: Es ist weniger Geld im Geldbeutel.

Herr Raue, wenn man in Ihrem «Restaurant Tim Raue» am Berliner Checkpoint Charlie essen gehen will, wie viel Geld braucht man für einen Abend?

Tim Raue: Das vegane Menü startet bei 228 Euro und das andere bei 268 Euro pro Person.

Haben Sie überlegt, ob Sie angesichts der gestiegenen Preise etwa für Energie und Lebensmittel nach oben gehen mit den Preisen?

Tim Raue: Meine Geschäftspartnerin Marie-Anne Wild und ich sind sehr preissensibel, weil wir nie die Teuersten sein wollten, sondern den Menschen auch die Möglichkeit geben wollten, zum Beispiel mittags zu kommen, wo wir günstiger sind. Ich nenne das mal ein demokratisches System: Bei uns wird alles über eine Online-Reservierung geregelt und jeder kann kommen. Wir müssen jeden Monat gucken, ob wir die Preise anziehen müssen oder nicht.

Keine einfache Kalkulation wahrscheinlich. Gibt es bei Ihnen eigentlich eine moralische Grenze, bei der Sie sagen: So viel Geld würde ich für Essen nicht mehr ausgeben?

Tim Raue: Nein. Moralisch ist für mich zuallererst Mal - und das war auch bei uns in der Pandemie die Quintessenz -, dass die Mitarbeiter bezahlt werden und die Lieferanten. Das ist das A und O. Und wenn das so viel kostet und die Nachfrage dafür da ist, ist das fein. Wir dürfen nicht vergessen: Wir haben im Schnitt 40 bis 45 Gäste pro Service - und wir haben 42 Mitarbeiter. Das heißt: Moralisch müssen die einen bezahlt werden, damit die anderen dann auch glücklich sind.

Interessant.

Tim Raue: Wir haben in der Pandemie weitergemacht und flexible Konzepte definiert, weil wir keinen unserer Mitarbeiter verlieren wollten; weil wir jedem 100 Prozent zahlen und niemanden nach Hause schicken wollten. Für mich kommt immer der Mitarbeiter als erstes. Ich bin Proletarier, ich bin Arbeiterkind. Für mich ist das Wichtigste: die Wertschätzung derjenigen, mit denen du etwas erreichst. Und es gibt ja - wenn ich das noch sagen darf - eine kulinarische Bewegung, die sich entwickelt hat in den letzten Jahren. So wie früher Menschen um den Planeten gereist sind, um in Museen oder klassische Konzerte zu gehen - machen sie immer noch -, so reist gerade eine junge Generation, um essen zu gehen. Das sind Menschen, die Preise gewöhnt sind, von denen sind wir noch weit entfernt. Und die machen es trotzdem, weil Kulinarik Teil ihrer Lebenskultur ist.

Nochmal zurück zur Sendung. Dort helfen Sie wahrscheinlich Restaurants, die nicht 270 Euro für einen Abend nehmen, sondern in einer anderen Kategorie spielen.

Katharina Raue: Nicht ausschließlich. Wir wollen uns nicht einschränken. Uns geht es darum, Gastronomen zu helfen. Und ob das jetzt ein Imbisswagen ist oder ein Sterne-Restaurant, ist für uns zweitrangig, weil die Probleme und die Fallhöhe sehr ähnlich sind. Es geht um die Existenz.

Frau Raue, Sie kümmern sich um Marketing und Gestaltung - können Sie eigentlich noch diese Kreidetafeln sehen, die es in vielen Restaurants und Cafés gibt?

Katharina Raue: Die sind gar nicht so schlimm. Viel schlimmer sind schwarze Lederbänke. Das nächste Mal, wenn Sie in ein Restaurant gehen: Schauen Sie mal, wie oft Sie auf schwarze Lederbänke treffen. Ich würde sagen: 88 Prozent aller Restaurants haben die.

Und die schmeißen Sie am liebsten gleich raus?

Katharina Raue: Naja, ich habe ja nur ein begrenztes Budget und man sitzt ja auch gar nicht so schlecht auf denen. Aber das ist etwas sehr Wuchtiges, Schwarzes und meistens sehr Unpersönliches.

Tim Raue: Etwas Energieziehendes.

Katharina Raue: Ja, Energievampire. Aber man kann es meistens sehr gut mit hübschen Wandverkleidungen kaschieren.

ZUR PERSON: Tim Raue (48) gehört zu den bekanntesten Köchen aus Deutschland. Der Berliner wurde auch in der Netflix-Produktion «Chef's Table» porträtiert. Seine Frau Katharina Raue (42) stammt aus Österreich und war Chefredakteurin des Fachmagazins «Rolling Pin». «Das, was uns beide eint, im Privaten und Beruflichen: Das Schlimmste für uns ist Belanglosigkeit oder Durchschnittlichkeit», sagt Katharina Raue. «Du kannst uns lieben oder du kannst uns hassen. Wir können mit beidem umgehen. Aber zu uns sagen: Wir sind belanglos und wir berühren nicht auf irgendeine Art und Weise? Dolchstoß!» dpa

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