Reise durch Lappland

«Es gibt Menschen, die haben noch nie die Stille gehört», sagt Björn Juhlin. Der Naturführer breitet ein Rentierfell auf dem weichen Heidekraut aus. Hier, unterhalb eines Berggipfels im Nationalpark Pieljekaise, kann er sie gestressten Touristen bieten, die große Stille. Auf dem Rücken liegen, die schmutzigen Wanderstiefel weit von sich strecken, in verschwitzten Klamotten die Ruhe genießen - das fühlt sich gut an nach zwölf Kilometern Wanderung durch unendliche Weiten.    

Der Nationalpark Pieljekaise liegt im schwedischen Lappland, rund 50 Kilometer südlich des Polarkreises. Vom Dorf Jäckvik schlängelt sich ein Wanderweg über 27 Kilometer durch Bergbirkenwald, über Gebirgsheidekraut und kahlen Fels bis zum Dorf Adolfström. Der Pfad ist ein Teilabschnitt des berühmten «Kungsleden», der 425 Kilometer lang von Hemavan bis Abisko durch Lappland führt. Der «Königswanderweg» streift den Nationalpark Sarek und den Kebnekaise, Schwedens höchsten Berggipfel mit 2104 Metern.    

Man trifft nur wenige Wanderer in dem 1909 gegründeten Pieljekaise-Nationalpark. Das Naturschutzgebiet wird deshalb auch der «vergessene Nationalpark» genannt. «Ein unentdecktes Paradies, besonders im Herbst», sagt Björn Juhlin. Er wohnt mit seiner Familie das ganze Jahr über auf einem entlegenen Hof bei Arjeplog. In der gleichnamigen Gemeinde leben 3100 Einwohner - auf einer Fläche von 18 000 Quadratkilometern, halb so groß wie Baden-Württemberg.    

Der kleine Ort hat außer zwei Supermärkten, zwei Tankstellen, ein paar Fastfood-Restaurants und Pizzerien sowie einem Angelgeschäft nicht viel zu bieten. Er versprüht den Charme eines amerikanischen Ortes irgendwo in der Prärie. Doch statt von Wüste ist er umgeben von mehr als 8000 Seen. Die Bergwelt um Arjeplog ist eines der größten unbesiedelten Gebiete Schwedens.

Im Sommer geht die Sonne hier nie unter, im Winter wird es an vielen Tagen kaum hell. Bevor aber die Dunkelheit kommt, explodiert die Natur im schwedischen «Indian Summer» in den grellsten Gelb-, Orange- und Rottönen.

Vom einem der vielen sanft gewölbten Gipfel überblickt man den Farbenrausch: Das Laub der Birken verfärbt sich gelb, dunkelrot leuchten die Alpen-Bärentrauben und die Gebirgsheide, im Tal glitzert ein See in der Herbstsonne. In alle Richtungen scheint die Erde unendlich weit zu sein, keine Straße, kein Strommast, kein Haus weit und breit. Für Björn ist Anfang September die schönste Jahreszeit zum Wandern: «Dann haben die Mücken ihre Hochsaison hinter sich.»    

Der Weg vom kahlen Fjäll hinab in den Birkenwald führt an einer Hütte vorbei. Diese öffentlich zugänglichen Holzhäuschen sind rar auf dem Weg durch den Nationalpark. Wer mehr als eine Tagestour plant, sollte ein Zelt mitnehmen - und einen warmen Schlafsack, denn im Herbsr kann es in Lappland nachts schon richtig Frost geben.    

In der Hütte haben Wanderer eine Gulaschsuppe zurückgelassen, in einer Ecke ist Holz aufgestapelt. Björn holt dünne Äste aus seinem Rucksack und schichtet sie in der Feuerstelle vor der Hütte auf einige Scheite Holz. Obendrauf entzündet er trockene Birkenrinde. «Streichholz, Karte, Kompass, Trinkbecher und ein kleines Messer muss man immer dabei haben», erklärt der 38-Jährige. In die Flammen stellt er einen verrußten Kaffeekessel. Das Wasser hat er vorher aus einem der vielen Bäche des Nationalparks geschöpft. Die Kaffeepause gehört zum schwedischen Lebensstil - auch in den entlegensten Gebirgsregionen.    

Auf einem Bergkamm gegenüber haben sich Dutzende neugieriger Augenpaare auf das Lagerfeuer gerichtet. Eine Herde Rentiere zieht durch den Nationalpark. Rund 40 Familien der ursprünglichen Sami-Bevölkerung verdienen in Arjeplog und der benachbarten Gemeinde Arvidsjaur noch ihren Lebensunterhalt als Rentierzüchter. Im Sommer und Herbst streifen rund 23 000 Rentiere frei durch das Fjäll. Im September werden sie zusammengetrieben, ein Teil wird geschlachtet, der Rest über den Winter in tiefere Küstenregionen gebracht, wo die Aussicht auf Futter besser ist.    

Die Rentierzüchter Lotta und Tom Svensson sind angespannt in diesen Herbsttagen. Das samische Ehepaar wartet auf den perfekten Tag, um ihre Tiere zu sammeln. Wenn das Wetter gut ist, muss ein Hubschrauber gemietet werden. «Das ist ein Wettlauf gegen die Zeit», erklärt Lotta. Geschlachtet werden nur Böcke. Und wenn die Brunft im September beginnt, verändert ihr Fleisch seinen Geschmack.    

Die samische Urbevölkerung lebt seit Jahrhunderten von der Rentierzucht. Obwohl seit den 70er Jahren Hubschrauber, Quads und Schneescooter das Zusammentreiben erleichtern, bleibt die Arbeit im Gebirge hart. Die Svenssons betreiben deshalb als Zuverdienst das Sami-Center Båtsuoj für Touristen.

«Wir wollen das Verständnis und den Respekt für das Leben der Samen stärken», erklärt Lotta. In einer Holzkote mitten im Wald erzählt sie Touristen vom Leben der Ureinwohner. In solchen zeltartigen Hütten lebten früher die nomadischen Samen während der Wintermonate. Die Gäste sitzen auf Rentierfellen rund um ein Lagerfeuer. In einer Pfanne brutzelt Rentierfleisch, das mit Mandelkartoffeln serviert wird.    

Lotta erzählt von der Kälbermarkierung im Frühjahr, den acht Jahreszeiten, nach denen die Samen leben, und von Sami, der Sprache der Urbevölkerung, die vom Aussterben bedroht ist. Zu Kaffee und getrocknetem Rentierfleisch stimmt Lotta oft einen «Joika» an, ein Lied im traditionellen samischen Sprechgesang. Doch an diesem Tag hat Lotta keine Zeit zum Singen, die Rentiere haben höchste Priorität. Die Svenssons warten auf den Hubschrauber.

Die Rentierherde ist längst weitergezogen, das Lagerfeuer erloschen. Die Dämmerung setzt langsam ein. Der schmale Wanderweg führt weiter durch dichtes Weidengestrüpp. «Hier fühlen sich Elche wohl», sagt Björn. Auch Bär, Luchs und Vielfraß leben im Nationalpark. Sie sind aber sehr scheu und selten zu sehen. Wo es zu sumpfig wird, führt der Weg über dünne Holzplanken. Im gelben Laub der Birken sprießen Pilze. Björn kennt die schmackhaften Exemplare: Birken- und Butterpilze, Heiderotkappen und sogar Steinpilze und Pfifferlinge.    

Je näher das Dorf Adolfström kommt, desto mehr weichen die Birken den Kiefernwäldern. Mit einem roten, typisch schwedischen Holzhaus beginnt die Zivilisation wieder. «Handelsbod Stugby Cafe» steht in schnörkeliger Schrift auf einem Schild. Wer den Laden betritt, fühlt sich in die 60er-Jahre-Welt von Astrid Lindgren versetzt. An den Wänden hängen alte Reklametafeln. Die Regale sind gefüllt mit allem, was in einen schwedischen Kramerladen gehört - von der Milch bis zum Angelhaken.    

Hinter der Ladentheke steht Marianne Thorve. Die gebürtige Stockholmerin zog 1977 nach Adolfström, zu ihrem Mann Jan, der ihr Wanderguide war. Das nächste Geschäft war damals fast 80 Kilometer weit weg, fließendes Wasser gab es noch nicht, das Telefon funktionierte nur manchmal. «Wer hier glücklich werden will, darf kein Herdentier sein», sagt sie. Die Mittfünfzigerin erzählt Besuchern bei einer Tasse Kaffee gerne vom Leben in der Einöde. Besonders im Winter ist ihr Geschäft voll. Dann wird die Region um Arjeplog Ziel von tausenden Autotestern aus ganz Europa, die auf den vielen zugefrorenen Seen die neuesten Modelle Probe fahren.    

Im Herbst ist es dagegen ruhig in Adolfström. Nur ein paar Fliegenfischer werfen ihre Angeln aus und warten darauf, dass eine Bachforelle anbeißt. Wer in Lappland angeln will, muss keine Fischerei-Prüfung abgelegt haben. Es reicht, sich für die jeweiligen Gewässer eine «fiske-kort», einen Angelschein, zu kaufen. Er kostet je nach Fischarten zwischen sechs und zehn Euro pro Tag. Marianne Thorve hat Karten für alle Seen und Bächen rund um Adolfström vorrätig. Und sie bietet einen Service für Touristen, die ihren Fang zu Hause vorzeigen wollen: «Wir helfen gerne beim Räuchern.»    

Doch es bleibt mehr von einem Urlaub in Lappland: In den Kleidern der Geruch nach Fisch, Lagerfeuer und Freiheit. (Aglaja Adam, dpa)    

Schwedisches Lappland    

ANREISE: Die schnellsten Flugverbindungen von Deutschland nach Lappland gehen über Stockholm zum kleinen Flugplatz von Arvidsjaur. Der nächstgelegene größere Flughafen ist Luleå. Ein Mietwagen ist in der Region unbedingt erforderlich.

ÜBERNACHTEN: Wanderer sollten ein Zelt mitnehmen. Die Pieljekaise-Hütte im Nationalpark ist immer zugänglich. Der Schlüssel zu den Schlafräumen kann in den Läden von Jäckvik oder Adolfström ausgeliehen werden. In Adolfström gibt es, wie an vielen anderen Plätzen im Gemeindegebiet Arjeplog, eine Ferienhausanlage.

INFORMATIONEN: Die Tourist-Info in Arjeplog ist neben der Kirche im Silbermuseum untergebracht: Torget, S-93090 Arjeplog (Tel. von Deutschland: 0046/961/145 00, silvermuseet.arjeplog.se