Sterne-Küche auf rustikalen Steinguttellern Trendsignale aus Berlin

Von Petra Kaminsky

Auf dem Teller liegen einzig zwei junge Möhren. Von außen sehen sie schwarz und verkohlt aus. Der Koch hinter dem Tresen kündigt den Mini-Gang als Delikatesse an, weil der Gemüsegeschmack bei der krassen Zubereitung intensiver wird. Zuvor gab es zwei zerteilte Radieschen mit Dip auf einem Steingutteller. Neue, zwanglose Restaurant-Konzepte, viele vegetarische Gerichte und auf wenige Zutaten reduzierte Kreationen liegen im Trend. Das goutierten auch die Tester des traditionsreichen Guide Michelin bei der Sterne-Vergabe für 2019 am Dienstag in Berlin.

Sterne-Küche auf rustikalen Steinguttellern | Trendsignale aus Berlin

«Dieses Elitäre war gestern», urteilt der Direktor des Restaurantführers für Deutschland und die Schweiz, Ralf Flinkenflügel. Lange mussten sich hiesige Feinschmecker die Kritik gefallen lassen, dass sie kulinarischen Hochgenuss nur dann voll zu schätzen wussten, wenn das Essen nach strikten Serviceregeln auf vornehm eingedeckte Tische kam. Doch da ist etwas in Bewegung gekommen.

Zwar finden die holzvertäfelten Gourmettempel - etwa im Schwarzwald - weiter ihre Klientel. Doch in Großstädten ist weiße Tischwäsche längst kein Muss mehr. Betonfußböden, essen mit unbekannten Nachbarn an der Theke und der ungezwungene Umgang mit Konventionen beim Servieren markieren den Stilwechsel. Kenner sprechen vom Casual Fine Dining, dem Nobelessen ohne Etikette.

«Das Casual Fine Dining ist in Berlin extrem durchgestartet», sagt Stephan Hentschel vom «Cookies Cream». Der Michelin-Führer adelte das vegetarische Restaurant vor rund einem Jahr erstmals mit einem Stern, jetzt wurde er verteidigt. Ein Vier-Gänge-Menü ist dort für 59 Euro vergleichsweise günstig. «Wir versuchen auch gar nicht, teurer zu werden», sagt der 37-jährige Top-Koch. Das Publikum sei mit «35 plus» recht jung.

Der Michelin-Experte Flinkenflügel betrachtet die Preisfrage mit gemischten Gefühlen: «Meine persönliche Meinung ist, dass sich viele auch dieser jungen Restaurants sich unter Preis anbieten.» Doch zugleich plagt ihn, dass Spitzenqualität nicht gerne angemessen bezahlt wird: «Höhere Preise sind schwer durchzusetzen in Deutschland, weil vielen Menschen oft das Verständnis fehlt, was alles dahinter steckt.»

Stephan Hentschel sieht sich in der guten Lage, reichlich ausländische Gäste zu bewirten: «Zu uns nach Berlin kommen viele Food-Touristen», erzählt er. Sie hätten eine Restaurant-Liste, die sie durchprobierten. Allerdings hat das lockere Ambiente für ihn auch Grenzen. «Es ist wichtig, dass wir der Frau zuerst aus dem Mantel helfen. Und dass wir am Tisch den Frauen vor den Männern einschenken», berichtet er. «Als das nicht klappte, haben wir schon mal schlechte Kritiken bekommen.»

Ein Beispiel für eine fast bistroartige Atmosphäre bietet das deutlich teurere «Ernst», mit einem Stern ein Neuzugang 2019. Es liegt in einer eher unansehnlichen Ecke des Berliner Stadtteils Wedding. Zwölf Gäste finden auf Barhockern Platz. Sie werden an einem Tresen aus der offenen Küche vom Koch-Team um den Kanadier Dylan Watson-Brawn (Foto oben Mitte) bedient. Ungefähr 25 winzige Gänge - dabei viel puristisch angerichtetes Saison-Gemüse - kommen für 185 Euro auf die Teller.

Watson-Brawn, 25 Jahre alt und seit rund 10 Jahren in Küchen tätig, hat auch schon in Japan am Herd gestanden. Obwohl er asiatische Techniken mit regionalen Produkten mixt, gilt sein Stil als klar und fokussiert. Weil er auf wenige Elemente setzt. «Ich versuche jeden Tag etwas Neues zu machen. So wird das Restaurant immer besser», sagt er bei der Sterne-Verleihung im Motorwerk in Berlin.

Obwohl zur Feier der neuen Michelin-Ausgabe zahlreiche Köche nach Berlin gekommen waren, stand am Nachmittag nur eine Frau in der Gruppe vor der Presse: Dalad Kambhu aus dem «Kin Dee» (Foto oben) in Berlin. Die 32-Jährige, die thailändisch kocht, kommentierte den Männerüberschuss mit der Aussage: «Wir haben da ein Problem. Das müssen wir ändern.» Sie selbst fördere gezielt Frauen bei sich im Restaurant, das erstmals einen Stern erhielt.

In Hamburg gehört das «100/200» von Thomas Imbusch zu den Neulingen im Ein-Sterne-Bereich: mit vielen Mini-Portionen, Innereien und der offenen Küche im Zentrum.

Diesen Trend-Mix bestätigt Bernhard Moser, Leiter des Feinschmecker-Festivals Eat!Berlin, das gerade läuft: «Wichtiger werden Nachhaltigkeit bei tierischen Lebensmitteln, eine sehr gute, entspannt kalkulierte Weinkarte und ein lockerer, aber freundlicher Service.» Weniger Wert legten die Gäste «auf Tischwäsche, ein Überangebot an Besteck aus Silber und gespreiztes Gehabe.»

Ein augenfälliges Detail der Lockerheit ist die Mode, feinste Speisen wie Hummer auf grobem Steingutgeschirr zu servieren. Solche - gerne mal dunkelgrüne oder braune - Töpferware galt zeitweise als uncool. Auch jetzt können sich nicht alle damit anfreunden.

«Wenn Delikatessen auf Steingutteller und Schieferplatten gelegt werden - ich finde, das passt nicht so», sagt Harald Wohlfahrt (63). Der Spitzenkoch, der sich 25 Jahre mit drei Sternen die höchste Auszeichnung erkochte (früher: «Schwarzwaldstube»), mag weiße Decken lieber als blanke Tische. Wenn man «Streicheleinheiten für den Gaumen» kreiere, sollte seiner Meinung nach auch der Rest vom Niveau her passen. Heute ist er neben anderem als kulinarischer Berater des Festspielhauses Baden-Baden aktiv.

Für eine andere Art, Regeln zu brechen, steht das «CODA Dessert Dining», ebenfalls in Berlin und ebenfalls erstmals mit einem Stern geehrt. Das Restaurant von Patissier René Frank serviert ein Mehrgänge-Menü nur aus Nachspeisen. Gäste bekommen etwa Oliveneis oder einen Gang mit Süßkartoffeln, Mango und Sauerrahm aufgetischt. Zu solchen Ansätzen berichtet Michelin-Cheftester Ralf Flinkenflügel: Die Köche hätten ihm gesagt, «durch unsere neuen Konzepte gewinnen wir viel mehr junges Publikum».

Alt und neu, beides dürfte noch länger parallel existieren, meint der Gastronomie-Fachmann Moser: «Ich denke, dass die klassischen Restaurants vor allem im nicht-urbanen Raum nicht aussterben werden.» dpa

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