Tabakanbau in Lorsch als UNESCO Kulturgut Vom Samenkorn zur Zigarre

Von Ira Schaible

Schon als Kind hat Annemarie Remeza ihrer Familie im südhessischen Lorsch bei der Tabakernte geholfen. Ein Grund für die erfahrene 66-Jährige bei einem ungewöhnlichen Tabakprojekt der Karolingerstadt an der Bergstraße mitzumachen. Unter der Leitung von Bernhard Stroick (76) brechen derzeit etwa 20 Ehrenamtliche samstags Tabakblätter. "Das Nikotin klebt, und die Hände sind sofort schwarz", erklärt Remeza, weshalb die Erntehelfer trotz der Hitze lange Hosen und Hemden, Kopfbedeckungen und auch Handschuhe tragen.

Der Tabakanbau und seine Verarbeitung an der UNESCO-Welterbestätte Lorsch sind - anders als in den Nachbarbundesländern der Rhein-Neckar-Region - ein Bürgerprojekt des Kulturamts. "Uns interessiert die kulturanthropologische Seite, denn eine jahrhundertelange Anbautradition einer derart arbeitsintensiven Kultur ist ganz sicherlich mentalitätsprägend", sagt Gabi Dewald vom Kulturamt. "Der Tabak will jeden Tag seinen Herrn sehen", beschreibt Stroick die viele Arbeit mit der Pflanze.

Hessen taucht in der Erhebung des Statistischen Bundesamtes zum Tabakanbau auch gar nicht auf, anders als seine Nachbarn. "Baden-Württemberg war um die Jahrtausendwende mit rund 1800 Hektar das größte Tabakanbaugebiet in Deutschland", sagt Isabel Kling vom Ministerium für den Ländlichen Raum in Stuttgart. Zusammen mit der Pfalz seien im Südwesten etwa zwei Drittel des deutschen Tabaks erzeugt worden. Besonders in Baden und der Pfalz sei der Tabakanbau auch ein Kulturgut. "Viele Generationen bäuerlicher Familienbetriebe haben vom luftgetrockneten Tabakanbau gelebt."

Tabakbrunnen Lorsch

Baden-Württemberg ist auch noch immer das größte tabakanbauende Bundesland. In Rheinland-Pfalz mit seinen Schwerpunkten im Kreis Germersheim, in Landau und an der südlichen Weinstraße spielt die Pflanze nur noch eine eher geringe Rolle in der Landwirtschaft, wie die Sprecherin des Ministeriums in Mainz, Nicolas Diehl, sagt.

Mehr als 40 Prozent der gesamten Tabakanbau-Fläche in Deutschland von rund 2040 Hektar liegen dem Statistischen Bundesamt zufolge in Baden-Württemberg - und ein gutes Fünftel (22 Prozent) in Rheinland-Pfalz. Die Zahlen stammen von 2016, neuere gibt es noch nicht. Sowohl die Zahl der Betriebe als auch die Größe der Fläche ist allerdings in beiden Bundesländern seit 2010 gesunken.

Kloster Lorsch

"Viele Betriebe, die vormals im Tabakanbau aktiv waren, sind dazu übergegangen, andere Kulturen anzubauen", berichtet Kling. Für den heißluftgetrockneten Virgin Tabak habe sich in den vergangenen Jahren jedoch insbesondere als Wasserpfeifentabak ein Markt entwickelt. Der Tabakpflanzerverband suche inzwischen wieder nach neuen anbauwilligen Betrieben.

In Lorsch wird seit 2013 wieder Tabak angebaut. Vor allem der Geudertheimer Tabak für Zigarren, aber auch eine zweite Sorte, wie Stroick sagt. Auf den insgesamt 1300 Quadratmetern wachsen 3200 Pflanzen, die wegen der Hitze in diesem Jahr etwas kleiner ausfallen. Das Feld liegt vor der letzten Tabakscheune der Stadt. Der Schuppen ist seit vergangenem Jahr ein Museum, das sich mit der Pflanze befasst - von der Saat bis zur Fermentierung. Im schon 1995 eröffneten Tabakmuseum in Lorsch geht es dagegen vor allem um die Zigarrenherstellung und um Rauchkultur.

Tabakanbau Lorsch

Direkt nach der Ernte der unteren Sandblätter der Tabakstauden schnüren die Lorscher Helfer sie mit breiten Gurten zusammen und bringen sie mit einem alten Traktor zum Aufnähen in ein Gehöft: Vor allem Frauen aus der Region sitzen auf Strohsäcken, durchbohren den Tabak mit einer Spezialnadel und fädeln ihn auf ein Garn. So können die Blätter im Tabakschuppen über ihnen mitten im Ort trocknen.

Die ehrenamtlichen Helfer setzten bei Anbau, Ernte und Verarbeitung nur wenig Maschinen ein. "Die Arbeit auf dem Feld wird möglichst händisch verrichtet", sagt Dewald. Es gehe vor allem darum, die sozialen Rituale nachvollziehbar zu machen und die das Jahr prägenden Termine - von der Saat im März bis zur Herstellung der Zigarre "Lorsa Brasil", die verkauft wird.

Diese werde allerseits gelobt, erzählt Helferin Eva-Maria Eberle beim Blätteraufnähen. "Aber die wenigsten von uns rauchen", ergänzt Christel Schmidt. "Es macht einfach Spaß", erklärt ihr Mann Wolfgang Schmidt aus Bensheim, warum er schon im vierten Jahr mitmacht. Andere Helfer treibt vor allem Neugier an. "Ich wollte sehen, wie Tabak entsteht", sagt etwa Kraftfahrer Christof Friese aus dem benachbarten Fürth. Viele der Ehrenamtlichen sind schon im Rentenalter, Nachwuchs zu finden, ist nicht so einfach.

"Tabak ist hier nicht in erster Linie ein Genussprodukt oder gar ein todbringendes Gift", sagt Dewald. Es gehe um den sozialen Faktor um die Entwicklung der Agrar- zur Industriegesellschaft. Gemeinsam mit den Landkreisen Bergstraße, Germersheim (Rheinland-Pfalz) und Rhein-Neckar (Baden-Württemberg) will Lorsch einen nationalen Antrag bei der UNESCO stellen, für die Anerkennung der Tabakkultur als immaterielles Kulturerbe.

Um die internationale Anerkennung zu erreichen, wird über einen Zusammenschluss mit Kuba und Indonesien nachgedacht. Kontakte nach Kuba gibt es bereits - Lorscher Tabakpflanzer haben schon auf den Feldern von Pinar del Rio Erfahrungen gesammelt. Und beim Tabakfest während der Lorscher Kerb vom 15. bis 17. September sollen auch Kubanerinnen das Zigarrenrollen zeigen. dpa