Von Ulrike Koltermann
Sandfarben und glibberig ruht sie in ihrer Schale. Die Sonne lässt das Perlmutt schimmern. Der schmale dunkle Rand der Auster fasert aus wie ein Tuschestrich auf feuchtem Papier. Tropft etwas Saft aus der zusammengedrückten Zitronenspalte auf die Auster, reagiert sie empfindlich und kräuselt den dunklen Rand zusammen. Mit einer kleinen Gabel lässt sie sich von dem knorpelartigen Fuß lösen, der sie an der Schale festhält. Hebt man sie dann vorsichtig an, gleitet sie wie auf einer Wasserrutsche sanft in den Mund hinein.
Wer gerne Austern schlürft, ist auf der französischen Halbinsel Cap Ferret an der Atlantikküste mitten im Paradies. Wer Austern eher skeptisch gegenübersteht, findet hier die denkbar schönste Umgebung, um sich mit ihnen anzufreunden.
Cap Ferret? An der Côte d'Azur? Nein, die Halbinsel im Mittelmeer heißt Cap Ferrat und zieht im Sommer vor allem russische und amerikanische Touristen an, die sich für viel Geld in luxuriöse Villen einmieten. Cap Ferret hingegen ist ein schmaler, langer Sandstreifen, der die Bucht von Arcachon abschließt. Hier haben viele Franzosen aus Paris und Bordeaux ihr Ferienhaus, das sie im Sommer mit Familie und Freunden bevölkern.
Aber Cap Ferret lohnt einen Ausflug auch außerhalb der Saison - dann lässt es sich kilometerweit am Strand entlanglaufen, ohne auf Menschen zu treffen, und die Austern schmecken besonders gut.
Die kleine Fähre legt am frühen Morgen von einem Holzsteg in Arcachon ab. Fahrkarten gibt es beim Kapitän, der mit seiner grauweißen Flattermähne aussieht, als wolle er den Stürmen auf den Weltmeeren trotzen. Windig ist es aber auch im Becken von Arcachon. Die wenigen Passagiere stehen an der Reling und sehen die hübschen Villen von Archachon mit ihren Erkern und gedrechselten Balkonen immer kleiner werden.
Bald ist am Ufer ein großer heller Hügel zu sehen: Europas größte Wanderdüne. Die Düne von Pyla ist mit rund 110 Metern etwa so hoch wie die zweite Etage des Eiffelturms - ein idealer Platz zum Herumtollen im Sand und Drachensteigen lassen. Je nach Wind verschiebt sie sich jedes Jahr um ein paar Meter. Bei mehr als zweieinhalb Kilometern Länge fällt das allerdings nicht weiter auf.
Die Fähre steuert unterdessen auf den weiß und rot gestrichenen Leuchtturm von Cap Ferret zu, der mitten aus einem Kiefernwäldchen heraufragt. Galant hilft der Käpt'n beim Aussteigen, schon legt die Fähre wieder ab, und die Ausflügler genießen die plötzliche Stille, die nur von einem fröhlichen Vogelzwitschern unterbrochen wird. Die Luft schmeckt salzig, es tut gut, tief einzuatmen. Cap Ferret ist ein hübscher kleiner Ort, aber keineswegs der Hauptgrund für die Überfahrt. Von der Anlegestelle geht es schnurstracks auf die andere Seite der Halbinsel, es dauert nicht mal eine halbe Stunde, bis der feine Sand erreicht ist.
Der zielstrebige Gang der Großstädter ist hier nicht mehr angebracht. Während der französischen Sommerferien im Juli und August vergnügt sich hier ein buntes Volk von Urlaubern, Kindern und Surfern. Aber in den ersten Monaten des Jahres kann man den scheinbar endlosen Sandstrand auch ganz für sich alleine haben.
Mächtige Wellen türmen sich auf und stürzen tosend in sich zusammen, die kräftige Meeresbrise kämmt das Strandgras dicht an den Boden. Der Himmel ist sagenhaft weit, auf der einen Seite anthrazit bis auberginefarben, über uns taubenblau mit schmutzigweißen Wolkenfetzen, auf der anderen Seite strahlend schlumpfblau.
Es juckt in den Füßen, sie wollen über die sandige Ebene sprinten und im flachen Wasser der zurücklaufenden Wellen herumplanschen. Ein bizarr geformter und vom Meer glatt gewaschener Baumstamm drängt sich als malerischer Vordergrund für eine ganze Serie von Strandfotos auf. Ein Strandspaziergang im Winter hat etwas Beruhigendes. Das Farbenspiel am Himmel setzt sich in zarten Blau- und Grüntönen auf der weiten Wasserfläche fort.
Blickt man nach Westen auf das Meer hinaus, kommt erstmal lange nichts. Wasser, Wasser, Wasser, bis zum kanadischen Halifax, das in etwa auf dem gleichen Breitengrad liegt. Dass es an der französischen Atlantikküste deutlich wärmer ist, liegt am Golfstrom, der von Mexiko herüberkommt und für mildes Klima in Europa sorgt.
Wenn die Beine vom Strandlaufen müde sind, ist der richtige Moment gekommen, um die berühmten Austern zu schlürfen. Durch den Kiefernwald, der sich über die ganze Halbinsel hinzieht, geht es zurück an die andere Seite, an die Bucht von Arcachon. Das Örtchen L'Herbe ist eines der Austernzüchter-Dörfer in der Bucht.
Kleine Holzhäuser mit farbenfrohen Fensterläden und Regenrinnen stehen so nahe beieinander, dass man durch die sandigen Gassen nur hintereinander her spazieren kann. Auf den Terrassen stehen und hängen Blumenkübel, in Vorgärten liegen alte Bojen, Fischernetze und Plastikkörbe.
«Kaum kommt die Sonne heraus, rennen die Leute uns die Bude ein», sagt Guillaume Fournier-Laroque und nimmt eine Auster aus einem grünen Korb. Mit einem Ruck bohrt er ein kurzes Messer zwischen die Schalen und spreizt sie mit einem routinierten Dreh auf. Die flache Oberschale wirft er in ein Loch in seinem Arbeitstisch aus Aluminium. Das Unterteil, in dem die Auster ruht, legt er vorsichtig auf ein großes rundes Tablett voller zerstoßenem Eis.
«Zwölfmal Nummer zwei, sechsmal Nummer eins, je zwölf Garnelen und Wellhornschnecken», ruft seine Frau, die auf der Terrasse die Gäste bedient, durch das offene Fenster. Je kleiner die Zahl, desto größer die Auster. Und je größer sie ist, desto teurer und leckerer ist sie. Außer vielleicht für Anfänger, die sich an die eigentümliche Konsistenz im Mund erst noch gewöhnen müssen.
Fournier-Laroque ist seit zehn Jahren im Austerngeschäft, er hat bei diversen Züchtern rund um die Bucht von Arcachon gearbeitet und sich vor fünf Jahren selbstständig gemacht. «Das Becken ist die beste Brutstation für Austernbabys», erklärt er. Tatsächlich entwickeln die winzigen Larven sich in dem relativ warmen Wasser besser als im kühlen Atlantik. Sie setzen sich besonders gerne an gekalkten Dachziegeln fest - was die vielen Stapel von Tonziegeln im Dorf erklärt.
Auf der Strandterrasse haben sich unterdessen mehrere Paare und Familien unter dem rot gestrichenen Sonnendach niedergelassen. Auf den schlichten Klapptischen stehen Drahtgestelle, auf denen die großen Platten voller Austern und Meeresfrüchte Platz finden. Dazu gibt es frisches Baguette, kleine Päckchen Butter und ein paar Zitronenschnitze. Manche Feinschmecker halten die Zitronen für überflüssig, sie töteten den zarten Eigengeschmack der Auster, meinen sie.
«Ich liebe Austern. Sie schmecken, als ob man das Meer auf den Mund küsst», sagte der französische Dichter Léon-Paul Fargue. Recht hat er. Eine Auster schmeckt erstmal salzig und nach dem Meerwasser, in dem sie badet. Aber wenn man sie zerkaut, entfaltet sich ein frischer nussiger oder auch süßlicher Geschmack. Dazu passt nichts besser als ein leichter Weißwein.
So wie Fournier-Laroque bieten mehrere Austernzüchter in L'Herbe und anderen Dörfern auf der Halbinsel ihre Ware zum Verkosten an. Nebenan bevölkern lustige Gestalten die Terrasse - sein Nachbar hat sie aus verrosteten Metallkugeln, bunten Seemannstauen und anderen Strandfundstücken gebastelt.
Der Blick schweift über die Bucht, in der das Wasser im Unterschied zur anderen Seite der Halbinsel ganz ruhig daliegt. Die Ebbe hat die sogenannten Austerntische freigelegt, Metallgestelle, auf denen die Austern in rechteckigen grobmaschigen Plastiksäcken liegen. Diese müssen häufig gewendet und geschüttelt werden, damit die Austern nicht zusammenwachsen und eine gleichmäßige Schale formen. Um die Orte zu markieren, an denen die Austern lagern, stecken die Züchter lange Holzstäbe ins Wasser.
Mittlerweile ist die Platte mit den Meeresfrüchten leer gegessen, zwei Spatzen picken frech die Brotkrümel auf, unter dem Tisch schleckt ein junger Hund eine heruntergefallene Austernschale aus. Zeit für einen Verdauungsspaziergang, dieses Mal nicht am Strand, sondern mitten durch den Kiefernwald.
Ein Rad- und Wanderweg führt die gesamte Halbinsel entlang und weiter um die Bucht herum. Außerhalb der Badesaison ist es dort herrlich einsam. Der Weg ins nächste Dorf ist nie weit. Ein Bus bringt Ausflügler in weniger als zwei Stunden zurück nach Bordeaux zum nächsten großen Bahnhof. Am Abend eines langen Tages in Cap Ferret bleibt das Gefühl zurück, man habe gerade zwei Wochen unglaublich erholsamen Strandurlaub hinter sich. dpa
Reise nach Cap Ferret
Reiseziel: Cap Ferret ist von Arcachon aus mit einer Fähre in einer halben Stunde erreichbar. Es gibt außerdem eine Busverbindung nach Bordeaux.
Reisezeit: Cap Ferret ist ein klassisches Sommerziel - und deswegen umso charmanter in der Nebensaison, wenn so gut wie keine Touristen da sind.
Unterkunft: Es gibt nur relativ wenige Hotels und Ferienwohnungen, aber die Halbinsel lässt sich gut auf einem Tagesausflug von Arcachon oder Bordeaux aus besuchen.
Informationen: Atout France, Postfach 100128, 60001 Frankfurt rendezvousenfrance.com