In Lissabon regieren die Gegensätze von purer Frauenpower und der hoch emotionalen Performance eines Mannes, der seinen verstorbenen Vater vermisst. Michael Schulte belegt beim Eurovision Song Contest einen grandiosen vierten Platz und rettet die so lange angekratzte Ehre Deutschlands. Aber vor allem liefern sich im Finale zwei Sängerinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, bis zur letzten Minute ein Kopf-an-Kopf-Rennen - genau so, wie die internationalen Buchmacher es prognostiziert hatten. Am Ende macht Netta aus Israel das Rennen.
Ausgeflippt, bunt, ja schrill ist sie, und singt energisch gegen Männer an, die Frauen unterdrücken oder ausnutzen wollen. «I'm not your toy!», lautet der Refrain ihres K-Pop-Songs (Ich bin nicht dein Spielzeug). Als die 25-Jährige begreift, dass sie gegen Eleni Foureira aus Zypern das Rennen gemacht hat, kommen der Powerfrau die Tränen. Die andere, die feurige Foureira im Glitzer-Catsuit, die mit dem Dance-Popsong «Fuego» die ESC-Bühne rockte, hat das Nachsehen.
«Der Sieg bedeutet, dass wir die Unterschiede zwischen uns akzeptieren und Diversität zelebrieren», jubelt die grell geschminkte Netta Barzilai in ihrem pink-roten Outfit, mit dem sie mutig ihre Kurven zur Schau stellt. Ihr Song passt geradezu perfekt in die derzeitige #MeToo-Debatte. Später sagt sie: «Ich denke, dass Authentizität ganz wichtig ist.» Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gratuliert noch in der Nacht und bezeichnet die Künstlerin als «Israels beste Botschafterin».
2019 zieht die ESC-Gemeinde nach Jerusalem. Die Fans können es kaum fassen: «Israel, Israel», rufen sie laustark und schwenken ihre Nationalflagge. Und dann «Netta, Netta!» Die «Eleni, Eleni»-Rufe hingegen verhallen in der kühlen Lissaboner Nachtluft.
Viel stiller war da der deutsche Beitrag. «I am a dreamer», lauten die ersten Textzeilen von «You let me walk alone». Bis ganz zum Schluss durften Michael Schulte und Deutschland wirklich von einem Platz ganz ganz vorne träumen. Fast gelingt es: Der Singer-Singwriter aus Norddeutschland, der in Buxtehude wohnt, wird Vierter, nur zwei Punkte hinter dem österreichischen Soul-Sänger Cesár Sampson, der mit seiner eingängigen Nummer «Nobody but you» - für viele überraschend - auf dem dritten Platz landet.
Die Zuschauer waren von Schultes Performance hingerissen. In der Ballade singt der 28-Jährige von seinem verstorbenen Vater, von seinen Erinnerungen an die Jahre mit ihm und davon, was dieser ihm mit auf den Weg gegeben hat. Die aufblasbare Projektionswand im Hintergrund, auf die einzelne Textzeilen sowie Fotos von Vätern und Söhnen geworfen wurden, machte den Act zu einem der schönsten und bewegendsten des Abends. Viele sprachen von «Gänsehaut-Feeling». Die Schmach der vergangenen Jahre mit letzten und vorletzten Plätzen ist da für Deutschland vergessen.
Während die einen feiern, herrscht bei anderen Trauer. Viele bulgarische Fans, die auf einen Sieg des Beitrags «Bones» von Equinox gehofft hatten, brechen in Tränen aus, als ihr Land nur den 14. Platz belegt. Auch bei den zyprischen Fans wird es still. Gastgeber Portugal landet sogar auf dem letzten Platz. Einige Zuschauer, die in Anlehnung an den Look von Cláudia Pascoal pinkfarbene Perücken getragen hatten, ziehen sich bedrückt die Haarpracht vom Kopf.
Auch Slowenien wagt sich mit einer nicht alltäglichen Frisur auf die Bühne, Lea Sirk tanzt mit rosa-schwarz gefärbter Mähne auf der imposanten ESC-Bühne. Die dänischen Wikinger, die ungarischen Hardrocker, die Operndiva aus Estland mit XXL-Ballkleid samt Projektionsfläche, der freche Lausbub mit Hosenträgern und Rucksack aus Tschechien: Die Show hatte etwas für jeden Geschmack und vereinte die verschiedensten Musik- und Modestile.
Auch einen Flitzer gab es wieder, keine Neuheit beim Song Contest. Dieses Mal traf es die Britin SuRie: Ein Mann entriss ihr das Mikro und brüllte kurz hinein, wurde aber schnell von Sicherheitsbeamten aufgehalten und von der Bühne geführt. SuRie gewann schnell die Fassung zurück, bekam wieder ein Mikro in die Hand und sang ihren Song «Storm» souverän zu Ende. «Ich bin total stolz auf sie, sie hat unter diesen schwierigen Umständen ganz toll performt», meinte ein britischer Fan. Die Europäische Rundfunkunion (EBU) bot der Sängerin sogar an, noch einmal aufzutreten, aber SuRie und ihr Team lehnten dies ab, «da sie extrem stolz auf ihren Auftritt» seien. Am Ende landete die 29-Jährige auf dem drittletzten Platz - Rang 24 von 26.
Abgesehen von Siegern und Verlieren hat aber eines auf jeden Fall gewonnen am Samstagabend: Europa. Lissabon gelingt ein friedliches Fest unterschiedlichster Musik, eine farbenfrohe Mega-Party in einer der schönsten Städte Europas, mit Fans, die Flagge zeigen und sich ohne Konkurrenzdenken gegenseitig anfeuern. Eine Türkin, deren Land gar nicht dabei ist, applaudiert lautstark für den serbischen Beitrag, zyprische Fans plaudern mit Briten, ein Ire erklärt Michael Schulte zu seinem Liebling, israelische Fans sitzen mit Deutschen am Tisch.
Noch während des Wettbewerbs erreicht die Nachricht von einem Messerangriff in Paris die Altice Arena. Nach all den blutigen Anschlägen der vergangenen Jahre in so vielen Metropolen beweist Europa zur gleichen Zeit, dass es sich nicht unterkriegen lässt und keine Angst davor hat, weiter Mega-Events wie den ESC auszurichten. Die Italiener Ermal Meta und Fabrizio Moro haben das Eurovisions-Lebensgefühl mit ihrem Beitrag, in dem sie gegen Terror und Gewalt ansingen, wohl am besten zusammengefasst: «Non mi avete fatto niente»: Ihr habt mir nichts antun können. dpa
Netta Barzilai: Extravagante Sängerin mit starker Stimme
Sie ist füllig, sie ist laut, sie trägt schrille Outfits: Die Israelin Netta Barzilai hat ihren ganz eigenen Stil. Die 25-jährige Siegerin des Eurovision Song Contest 2018 feiert ihren kräftigen Körper, obwohl er nicht dem vorherrschenden Idealbild entspricht. «Du musst nicht dem Standardbild davon entsprechen, wie jemand aussehen, denken, reden und kreativ sein muss, um Erfolg zu haben», lautet ihre Botschaft an junge Frauen.
«Wenn die junge Netta mich zur Primetime hätte sehen können, wäre die junge Netta weniger unglücklich gewesen», sagte die 25-Jährige nach ihrem Sieg. «Ich feiere mich, egal, was meine Größe ist.»
Von einer musikalischen Karriere habe sie geträumt, solange sie denken könne, sagte die junge Israelin der Deutschen Presse-Agentur vor kurzem in Tel Aviv. Barzilai ist das mittlere von drei Kindern, geboren wurde sie 1993 in der Stadt Hod Hascharon nördöstlich von Tel Aviv. In früher Kindheit verbrachte sie mehrere Jahre in Nigeria, wo ihr Vater als Vertreter eines israelischen Unternehmens arbeitete.
Barzilais ungewöhnlicher Song «Toy» vermischt zeitgenössischen mit typisch koreanischem Pop, Hip-Hop und orientalischen Klängen. «Im Text geht es um das Erwachen weiblicher Power und soziale Gerechtigkeit, mit einer einfachen und direkten Botschaft», sagt die junge Frau. «Nämlich: Ich bin nicht dein Spielzeug.» Dies gehe aber nicht nur junge Frauen an, sondern eigentlich jeden: «Seid stolz und nehmt euch selbst so an, wie ihr ausseht und denkt.»
Wie sie nach ihrem Sieg andeutete, war Barzilai nicht immer so selbstbewusst. Als Jugendliche habe sie durchaus mit ihrem Gewicht gehadert, erzählte sie dem israelischen Fernsehen. «Als Mädchen habe ich mir immer vorgestellt, dass ich ein dünner, schöner Star werde, dass es nur so klappen kann», sagte. «Heute verstehe ich, dass ich es geschafft habe, ohne mich zu verändern.»
Ihren Wehrdienst leistete sie in einer Band der israelischen Marine. Anschließend studierte Barzilai an der Rimon-Schule für zeitgenössische Musik und Jazz bei Tel Aviv, in der Abteilung für elektronische Musik. Das Geld für ihre Ausrüstung verdiente sie als Kellnerin. Sie trat häufig in Bars in Tel Aviv und auf Hochzeiten auf. Einem größeren Publikum wurde sie nach ihrem Sieg bei dem israelischen Gesangswettbewerb «Hakochav Haba» (Der nächste Star) bekannt. Dort gewann sie das «goldene Ticket» für die Teilnahme am Eurovision Song Contest in Portugal.
In ihrem Song «Toy» geht es um weibliche Selbstbestimmung. «I'm not your toy, you stupid boy» (Ich bin nicht dein Spielzeug, du dummer Junge). Deshalb wurde Barzilai auch mit der aktuellen #MeToo-Debatte um Gewalt und Missbrauch in Verbindung gebracht. Die Sängerin sagte dazu, es sei «großartig, dass Frauen ihre Stimmen finden».
Gedanken darüber, was andere von ihr erwarten, sieht sie als Zeitverschwendung. Denn das Leben sei kurz, sagt die 25-Jährige. «Wir sind doch nur eine Minute hier, und deshalb sollten wir die Zeit einfach genießen.» Und diesem Motto will sie auch nach ihrer Rückkehr nach Israel treu bleiben - auf die Frage, was sie dann als erstes machen wolle, hat Netta eine klare Antwort: «Hummus», eine orientalische Spezialität.