Sterneregen über Deutschland: Nie zuvor konnte man hierzulande so gut schlemmen wie 2011. Nie zuvor hat der Guide Michelin, das Zentralorgan der internationalen Gourmet-Gemeinde, zwischen Flensburg und Freiburg so viele Sterne verteilt wie in seiner aktuellen Ausgabe: 237 besternte Restaurants gehören in diesem Jahr zur kulinarischen Bundesliga.
Mit neun Drei-Sterne-Restaurants lässt Deutschland, früher eher ein Hort der Mehlschwitzen und Dosensuppen, sogar Italien hinter sich. "Die besten Köche in Deutschland", sagt Jean-Luc Naret, der Direktor des Guide Michelin, "kochen heute so, wie die Deutschen ihre Autos bauen: auf absolut perfektem Niveau."
Die Sterneschwemme für heimische Köche ist der vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung, die vor 40 Jahren in München ihren Anfang nahm. Ende 1971 eröffnete in Schwabing ein futuristisch designtes Restaurant namens Tantris. In dessen Küche stand ein bis dahin eher unbekannter Österreicher am Herd: Eckart Witzigmann. Der servierte seinen Gästen Wolfsbarsch mit Fenchel oder Kalbsbries Rumohr - eine Revolution auf deutschen Tellern. Doch die Deutschen wollten keine Revolution. Sie wollten Pfeffersteak.
"Man musste die Gäste regelrecht erziehen", sagt Witzigmann. Es dauerte etliche Jahre, ihnen beizubringen, dass es eine Küche jenseits von Schweinshaxe und Rindsroulade gibt. Jahre, in denen Witzigmann mehr als einmal das Handtuch werfen wollte. Dass er es nicht tat, ist vor allem Fritz Eichbauer zu verdanken, Münchener Bauunternehmer, Gourmet und Besitzer des Tantris. Eichbauer wusste von zahlreichen Reisen nach Frankreich, wie gute Küche schmecken kann. So wollte er auch zuhause in Bayern speisen. Eine Kathedrale des Genusses wollte er errichten. Von einem Kirchenarchitekten ließ er das Tantris entwerfen, und auf den Rat eines elsässischen Drei-Sterne-Kochs engagierte er Eckart Witzigmann.
Die ersten Jahre: Eine Durststrecke. Tiefrote Zahlen. "Von dem Geld, das ich ins Tantris gesteckt habe", sagt Eichbauer, "hätte ich mir auch ein Schloss kaufen können. Aber wo hätte ich dann essen sollen?" Eichbauer hielt durch. Und überzeugte Witzigmann, zu bleiben, zumindest bis 1978. Der Lohn: 1973 ein Stern im Michelin, ein Jahr später der zweite. Den dritten Stern erkochte sich Witzigmann einige Jahre später in seinem eigenen Restaurant, der Aubergine. Damit war er der erste Drei-Sterne-Koch in Deutschland.
"Es gibt in deutschen Küchen eine Zeit vor Witzigmann und eine Zeit nach Witzigmann", resümiert Madeleine Jakits, Chefredakteurin des Feinschmeckers. "So wie andere das absolute Gehör haben", ergänzt Master-Sommelier und TV-Moderator Hendrik Thoma, "hat Witzigmann den absoluten Geschmackssinn." Und Christian Jürgens, heute einer von Deutschlands zehn besten Köchen, sagt: "Ohne ihn gäbe es das deutsche Küchenwunder nicht. Er hat für uns alle den Weg bereitet."
Die Philosophie von Eckart Witzigmann lautete zeitlebens: nur erstklassige Produkte verwenden und deren Eigengeschmack in den Vordergrund stellen. Doch hochwertige Lebensmittel zu besorgen - das war gar nicht so einfach in Deutschland Anfang der siebziger Jahre. Das Land: eine kulinarische Diaspora. Creme Fraiche und Basilikum, Maispoularden und Jacobsmuscheln waren hier nicht zu kriegen. Unter teilweise abenteuerlichen Umständen ließen Witzigmann und eine Handvoll gleichgesinnter Kollegen die heiße Ware aus Frankreich nach Deutschland schmuggeln.
Derlei Probleme sind für die Garde der jungen Sterneköche heutzutage Geschichte. Dank diverser Gourmet-Logistik-Unternehmen sind spätestens seit Ende der achtziger Jahre Lebensmittel aus jedem Winkel der Welt jederzeit verfügbar. Die Kehrseite der Medaille: Weil alle alles immer haben konnten, glichen sich eine zeitlang die Speisekarten der Republik mehr und mehr an. In München und Hamburg, in Berlin und Düsseldorf gab es Hummer aus Kanada, Steinbutt aus der Bretagne und Lamm aus Neuseeland. Doch auch diese Phase ist vorbei. Heute lautet das Mantra fast jeden Sternekochs, bevorzugt mit den Produkten aus der Region zu arbeiten.
Mit der kulinarischen Revolution wandelte sich auch der Nimbus des Kochs hierzulande: Galt der Kochberuf noch in den Siebzigern als ein Job für Leute, die nichts Besseres konnten, umweht den Beruf heute eine Aura von Glamour und Kreativität. Manche Köche wurden zu Superstars, ihre Kochbücher zu Bestsellern. Kochkurse bekannter Herdkünstler sind Pilgerziele für ambitionierte Hobbyköche, über Monate im Voraus ausgebucht.
SPIEGEL-TV-Autor Ralph Quinke beschreibt in seiner vierstündigen Dokumentation, wie sich Deutschland in den letzten 40 Jahren von einer kulinarischen Einöde zu einem Schlaraffenland für Feinschmecker gewandelt hat. Er schaute Ein-, Zwei- und Drei-Sterne-Köchen wie Alexander Herrmann, Hans Haas und Nils Henkel in die Töpfe. Er beobachtete, wie viel täglichen Stress es bedeutet, auf Sterne-Niveau zu kochen. Und ein SPIEGEL-TV-Team durfte zum ersten Mal dabei sein, als ein junger Koch erfuhr, dass er mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wird.
Sendung: Samstag, 19. März, 20:15 Uhr auf VOX
Wiederholung: Sonntag, 20. März, 8:45 Uhr auf VOX
Die Michelin Sterne 2011 in Deutschland