Von Werner Herpell
Man muss ein intensives, auch schmerzensreiches Leben gelebt haben, um ein Album zu machen wie jetzt Marianne Faithfull mit «Negative Capability». Und man muss gute Freunde und herausragende Musiker an seiner Seite wissen, um eine so wuchtige Lebensbilanz dann auch angemessen umzusetzen. Beides zusammen macht die 21. Platte der inzwischen 71 Jahre alten Sängerin zu einem Ereignis.
In den 60er Jahren war Faithfull eines der schönsten Gesichter des Swinging London, eine bewunderte Stilikone an der Seite ihres Lebensabschnittsgefährten Mick Jagger, mit dem ersten, schon sehr melancholisch eingefärbten Welthit «As Tears Go By» (1964). Die 70er erlebte die Britin als Junkie, ganz tief unten und dann doch noch triumphierend mit dem Trotz-und-Wut-Album «Broken English» (1979).
Als Faithfull endlich clean war, folgten weitere große Werke wie «Strange Weather» (1987) und «Before The Poison» (2005). Zwischendurch reüssierte sie als Kurt-Weill-Interpretin - und als Charakterdarstellerin im Kino, etwa mit der Tragikomödie «Irina Palm» (2007). «Negative Capability» fasst nun all die Erfolge, Abstürze und Verletzungen wie unter einem Brennglas zusammen.
Die von einem zeitweise ungesunden Leben gegerbte, kratzig-tiefe Stimme der Faithfull, ihre zwischen Klavierballade, Folksong und düsterem Rock pendelnden Lieder - schon das greift dem Hörer ans Herz. Und dann noch die Texte, über den Verlust geliebter Menschen («Don't Go») oder den ganzen Wahnsinn da draußen in der Welt («They Come At Night» behandelt den furchtbaren Terroranschlag von 2015 in ihrer Wahlheimat Paris). Nein, mit Popmusik hat das nichts mehr zu tun. Kein Wunder, dass Kritiker für «Negative Capability» bereits den Vergleich mit monumentalen Alterswerken von Johnny Cash oder Leonard Cohen gewählt haben.
«Es ist das ehrlichste Album, das ich je gemacht habe», sagte Faithfull kürzlich dem britischen Musikmagazin «Mojo». Früher habe sie darauf geachtet, möglichst wenig von sich preiszugeben - um diesmal hingegen ganz viel herauszulassen. Zu diesen sehr persönlichen Äußerungen in ihren aktuellen Liedern gehört auch körperlicher Schmerz - die 71-Jährige ist gebrechlich geworden, leidet unter anderem an schwerer Arthritis, muss am Stock gehen.
Wie schon bei früheren Alben, auf denen Faithfull als hochverehrte Diva von jüngeren Musikern wie PJ Harvey, Damon Albarn (Blur), Jarvis Cocker (Pulp) oder Anna Calvi begleitet wurde, gibt es auf «Negative Capability» spannende Kooperationen: «The Gypsy Faerie Queen» mit Nick Cave, «They Come At Night» mit Mark Lanegan, die schönen Balladen «Born To Live» und «No Moon In Paris» mit ihrem Bandleader und Pianisten Ed Harcourt. Außerdem covert die Britin Bob Dylans «It's All Over Now, Baby Blue».
Und sie nimmt sich zwei wichtige Lieder ihrer eigenen Laufbahn nochmals vor: «Witches Song» (vom ersten Comeback «Broken English») - und dieses berühmte «As Tears Go By», mit dem vor gut 50 Jahren alles begann.
Das von Mick Jagger und Keith Richards geschriebene Stück hat sich Faithfull nun schon drei Mal zu eigen gemacht - als 18-jähriges Mädchen 1964, als reife Frau 1987 und jetzt wieder, mit über 70. «Als ich das Lied zum ersten Mal aufnahm, mochte ich es nicht besonders», sagte sie im Interview von Deutschlandfunk und «Rolling Stone». «Und beim zweiten Mal war ich so traurig. Und jetzt, endlich, hab' ich's. Ich verstehe es, und ich liebe es.»
Mit dem bewegenden «As Tears Go By» schließt sich ein Kreis. «Es ist ein großes Wunder, dass ich diese Platte noch machen konnte. Jetzt muss ich nur noch meine Angst überwinden, dass die Leute sie nicht mögen», sagte Faithfull dem «Mojo» über ihr Spätwerk. Doch deswegen sollte sie keine Sorge haben - «Negative Capability» ist eines der besten Alben dieser eindrucksvollen Karriere. dpa