Von Caroline Bock
Die Vögel zwitschern, Kellner in Weste flitzen unter der Lampionkette durch den Biergarten. Günter Schmidtke (78), vielleicht Berlins letzter Preuße, trinkt Kaffee. Gleich beginnt seine Schicht an der Garderobe von «Clärchens Ballhaus». Mit seinem gebogenen Schnauzbart sieht er aus wie von Heinrich Zille gemalt.
«Setz dir mal hin, meene Kleene», sagt er. Im Theater würde man denken: zu dick aufgetragen, dieser Berliner. Aber «Clärchens Ballhaus» hat noch Originale und Patina. Dieses Jahr wird das Traditionslokal 100 Jahre alt.
Renovieren? Bloß nicht. Durchsanierte Orte hat Berlin genug. An der Fassade des Hinterhofs bröckelt der Putz, auf den Kaffeehaus-Stühlen haben Generationen von Ballhaus-Besuchern getrunken und geflirtet. Der Tanzsaal sieht aus wie eine Filmkulisse aus den 20er Jahren. An den Wänden hängt Lametta aus einer alten Volksbühnen-Inszenierung. Gerade lernen Paare in einem Kurs Cha-Cha-Cha.
«Der Pulsschlag ist das Tanzen», sagt David Regehr (46), seit 2004 neben Christian Schulz (43) einer der Ballhaus-Chefs. Die Musik reicht von AC/DC über Peter Fox bis Andrea Berg. Cool sein muss man hier nicht. Tagsüber sitzen Familien bei Pizza im Garten, nach Mitternacht kann die Stimmung sein wie bei einer Betriebsfeier kurz vor dem Kippen. Einen gestrengen Club-Türsteher wie das «Berghain» hat das Ballhaus nicht. «Die Frisur muss nicht sitzen, die Klamotten sind wurscht», schrieb ein Stadtmagazin, das den Spitznamen «Bärchens Knallhaus» erwähnt und es zu «Berlins Absturzladen 2012» kürte. Ein Ehrentitel.
Als die Theaterleute Regehr und Schulz das Ballhaus vor neun Jahren aus dem Dornröschenschlaf weckten, kamen die alten Stammgäste zurück, erzählen sie. Und mit ihnen junge Leute, Touristen und Promis. Quentin Tarantino drehte an der Bar mit Brad Pitt und Christoph Waltz eine Szene für «Inglourious Basterds».
Das Publikum ist gemischt wie in bayerischen Biergärten. «Wo sonst teilen sich Forstarbeiter, Museumsdirektor, Baggerfahrer, Vermögensberaterin, Erzieherin und Verkäuferin einen Tisch?», schwärmt Grafikerin Marion Kiesow, die zum Jubiläum eine Kulturgeschichte des Ballhauses geschrieben hat.
Auf 400 Seiten hat sie Fakten und Anekdoten zusammengetragen: von den «Witwenbällen» für alleinstehende Frauen, zu denen die erste Chefin Clara «Clärchen» Habermann lud, über das «Mensurfechten» der Burschenschaftler im prächtigen Spiegelsaal bis hin zu DDR-Zeiten. Damals notierte die Stasi, das Ballhaus sei bevorzugter Aufenthaltsort «für leichtlebige Personen beiderlei Geschlechts».
An die 900 Ballhäuser soll es angeblich zu Kaisers Zeiten in Berlin gegeben haben, nur noch wenige sind übrig. «Clärchens» war mehr als 90 Jahre in Familienbesitz, bis Regehr und Schulz es «völlig blauäugig» übernahmen.
Eine der wichtigsten Entscheidungen war für sie, Tanzkurse bei laufendem Gastro-Betrieb abzuhalten. Das bringt Leben in die Bude. Das Motto für das Jubiläumsfest im September: «100 Jahre Clärchens Ballhaus, 7 Tage Hochbetrieb».
Eigentlich wollte Garderobier Günter Schmidtke nach dem Geburtstag und 46 Jahren im Ballhaus aufhören. Aber da ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen. «Früher war es langweilig», sagt Schmidtke zu den alten Zeiten.
Nur dass heute Gäste in «Hippielatschen aus China», Turnhemd und kurzen Hosen kommen, missfällt ihm. «Das sieht so lächerlich aus!» Zur Arbeit geht er noch immer gern. Eines kommt ihm aber nicht in den Sinn: Tanzen. «Ick blamier mir doch nicht.» dpa