Nach einem extrem trockenen Winter setzten im April und Mai die ersehnten ergiebigen Niederschläge ein. Der späte Austrieb war eher positiv zu sehen, denn dadurch wurden Schäden durch die gefürchteten Spätfröste vermieden. Das Wetter zur ebenfalls späten Rebblüte war allerdings recht unbeständig: Während in einigen Gebieten Hitze und Trockenheit zu Verrieselung und somit Mengenverlusten führten, waren es anderswo Regenfälle. Auch erforderte vielerorts auftretende Peronospora sorgfältige Pflanzenschutzmaßnahmen. Ende Juni begann die erste Hitzeperiode des Jahres, die in den meisten Weinbaugebieten von einem heißen und trockenen Sommer gefolgt wurde – abgesehen von der Steiermark und Kärnten. Niederschläge Anfang August sorgten für eine gewisse Erleichterung, sodass Trockenschäden im Gegensatz zum Vorjahr – außer in sehr exponierten Junganlagen – ausblieben. Die gesamte Vegetationsperiode war immer wieder von Hagelschlägen durchsetzt, etwa Ende Mai in Poysdorf und Mautern, Ende August in Wien und Teilen der westlichen Wachau sowie Mitte September im Kamptal. Auch Kärnten und punktuell Oberösterreich blieben von solchen Überraschungen nicht verschont.
Nach den Niederschlägen im August schritt die Reifeentwicklung kontinuierlich voran, wobei sie in vielen Weinbauorten durch kurz vor Lesebeginn einsetzende Regenfälle noch einmal kräftig angekurbelt wurde. Dadurch begann bald die Hauptlese, die zügig voranging. In den Weingärten, die stärker von Peronospora betroffen gewesen waren, musste unter großem Aufwand penibel selektioniert werden, was geringere Erträge zur Folge hatte. Botrytisdruck gab es hingegen kaum. Die Traubenreife schritt allgemein rasch voran, wobei die Säurewerte gleichzeitig zurückgingen. Wieder einmal war es wichtig, trotz der frühen, guten Zuckerreife nicht allzu bald zu lesen, sondern die physiologische, also gesamtheitliche Reife der Trauben abzuwarten. Die bewiesene Geduld wurde durch das traumhafte Herbstwetter, das im Wesentlichen bis zum Staatsfeiertag am 26. Oktober anhielt, reichlich belohnt.
NIEDERÖSTERREICH
Die erwähnten Witterungsverhältnisse herrschten grundsätzlich in ganz Niederösterreich vor, wobei die Intensität der Regenfälle vor der Hauptlese in den einzelnen Anbaugebieten durchaus unterschiedlich ausfiel. Im Allgemeinen sind von den niederösterreichischen Weinbaubetrieben dichte, saftige Weißweine mit klaren Fruchtaromen und runder Säurestruktur zu erwarten, die auch die Attribute der Rebsorten gut ins Glas bringen. Vermutlich wird die niederösterreichische Leitsorte Grüner Veltliner diesmal stärker traubige und an Kernobst erinnernde Aromen zeigen als pfeffrig-tabakige Würzenoten. Für die Rieslinge und die Angehörigen der weißen Burgunderfamilie scheint die Säure jedenfalls ausreichend zu sein, sodass mit balancierten wie fruchtbetonten Gewächsen zu rechnen ist. Auch die aromatischen Varietäten – etwa Gelber Muskateller und Sauvignon Blanc – und die Spezialitäten aus der Thermenregion werden ihre sortenspezifischen Merkmale ausspielen können.
In den niederösterreichischen Rotwein-Stützpunkten Carnuntum, Steinfeld (Thermenregion) und den Weinviertler Rotweininseln steht ein weiterer hervorragender Jahrgang mit ausgereiften, kraftvollen Weinen bevor, der die gesamte Bandbreite des österreichischen Rotwein-Sortiments abdeckt.
Ein früher Kälteeinbruch Anfang Dezember sorgte außerdem für Freude bei den Eisweinspezialisten: Sie konnten sehr sauberes gefrorenes Traubengut in guter Menge ernten.
BURGENLAND
Im Burgenland gab es zwar ebenfalls Niederschläge zu den erwähnten Zeitpunkten, aber in deutlich geringerem Ausmaß. Feine Weißweine mit sattem Fruchtschmelz und klarem Sortenprofil sind sowohl aus den Weinbaugemeinden am Leithagebirge und rund um den Neusiedler See als auch aus dem Südburgenland zu erwarten. Sehr gute Resultate scheinen diesmal beispielsweise Weißburgunder, Chardonnay und Welschriesling geliefert zu haben. Säuremängel sind ihnen im Grunde ebenso wenig zu attestieren wie den aromatischen Sorten. Botrytis war im Gegensatz zur Peronospora dieses Jahr kein Thema, wozu wohl auch die kühlen Nachttemperaturen während der Haupternte beigetragen haben.
Aus den Rotweinrauben wurden hochgradige, farbintensive Moste gewonnen. Diese werden zweifellos ausgereifte Weine voll Saft und Kraft mit reifen, samtigen Tanninen ergeben. In sämtlichen burgenländischen Rotwein-Hochburgen ist daher mit gebündelten, doch ausgewogenen und strukturierten Gewächsen voll Spannkraft zu rechnen, die den hervorragenden Vorgängern aus 2019 und 2021 nicht nachstehen werden. Die einheimischen Leitsorten Blaufränkisch und Zweigelt konnten dabei in gleicher Weise wie die französischen Sorten punkten. Sicherlich werden die Rotweine aus diesen drei exzellenten Jahrgängen in Zukunft oft miteinander verglichen werden.
Relativ spät trat Botrytis auf und sorgte für hochgradige Dessertweine mit tollem Säurerückgrat. Wie auch in Niederösterreich ermöglichte ein früher Frosteinbruch endlich wieder eine nennenswerte und hochwertige Eisweinlese.
STEIERMARK
In allen drei steirischen Weinbaugebieten scheint sich ein feiner Jahrgang anzubahnen. Verrieselung und Peronospora-Befall spielten dort eine erhebliche Rolle, sodass voraussichtlich die kleinste Ernte seit 2016 eingebracht wurde. Generell sind die Weißweine dicht und extraktreich bei moderaten Alkoholwerten. Zudem hat der in der Steiermark auch in den Sommermonaten sehr reichliche Niederschlag keinerlei Säureprobleme auftreten lassen, sodass mit recht rassigen, pointierten Tropfen zu rechnen ist. Pikanz und intensives Fruchtspiel sowie eine klar gezeichnete Struktur und Harmonie zeigen sich insbesondere bei der steirischen Leitsorte Sauvignon Blanc. Ganz Ähnliches gilt für den zweiten Trendsetter, den Gelben Muskateller, der seine unverkennbare Aromatik ebenso zur Geltung bringen wird wie der etwas ruhiger und dezenter anmutende Traminer. Aber auch Chardonnay, Weißburgunder und Grauburgunder werden voraussichtlich zu beachtlicher Form auflaufen, was insbesondere für die Weinbauzentren des Vulkanlandes gilt. In dessen etwas wärmeren Kleinklimata fühlt sich diese Sortengruppe offenbar besonders wohl – das gilt für alle drei Herkunftsebenen: Gebietswein, Ortswein und Riedenwein. Aufgrund dieser klimatischen Faktoren war im steirischen Südosten auch wieder eine etwas höhere Traubenreife zu erzielen. Das Schilcherland im Westen hingegen trumpft mit schlanker Eleganz und kühler Frische auf. Die Blaue-Wildbacher-Rebe lieferte letztes Jahr feingliedrige, rassige Schilcher, die typische Ribisel- und Stachelbeertöne besitzen und eine frühe Balance von Reife und knackiger Fruchtsäure zeigen. Auch im steirischen Westen war es sinnvoll, mit der Lese ein wenig zuzuwarten und das prachtvolle Herbstwetter zu nutzen.
Wien
Wie in Niederösterreich und Burgenland konnten auch in den Wiener Weingärten am Nußberg, Bisamberg und Maurerberg gut ausgereifte Weißweine geerntet werden, die das gesamte Spektrum abdecken. Auch hier war eine spätere Lese des Öfteren von Vorteil. Teilweise sorgten die Auswirkungen der frühen Peronospora und des Hagels Ende August für Sorgenfalten und Ertragsminderungen. Generell sind aber sortentypische, saftige Veltliner und rassige Rieslinge ebenso zu erwarten wie ausgewogene, vielschichtige Wiener Gemischte Sätze.
BERGLAND
Die oberösterreichischen Weinbaugegenden können schlicht und einfach den besten Jahrgang aller Zeiten vermelden. Der Feuchtigkeitspolster aus dem Frühjahr erwies sich in den heißen wie trockenen Sommermonaten als segensreich, und die Regenfälle Anfang August verliehen zusätzliche Schubkraft. Hie und da war etwas Hagel zu verzeichnen, doch dann herrschte perfektes Schönwetter, das während der gesamten Leseperiode anhielt; der anderswo vor Lesebeginn eintretende Starkregen blieb aus. Das Ergebnis sind außergewöhnlich reife, aromatische und runde Weine von bisher unbekannten Gradationen bis hin zur Auslese.
In den Kärntner Weinbauinseln waren die Verhältnisse etwas schwieriger als im hochgelobten Vorjahr. Den ganzen Sommer hindurch hielten ausgedehnte Regenfälle an, die in den Weinbauorten von Unterkärnten auch von Hagelunwettern begleitet wurden. Dadurch ging die Hauptlese relativ spät vonstatten, wobei die Lesearbeit in durch Peronospora und Hagel geschädigten Weingärten sehr aufwendig war. Im Allgemeinen sind leichtere, kernige Weine von guter Sortentypizität und Lebendigkeit zu erwarten.
In den Tiroler Weinbaufluren wurde der späte Austrieb mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, denn auf diese Weise blieben Schäden durch die gefürchteten Spätfröste aus. Aufgrund der sommerlichen Niederschläge war aufmerksamer Pflanzenschutz unabdingbar. Die eher späte Lese erforderte einen hohen Arbeitsaufwand und erbrachte eine ziemlich kleine Erntemenge bei hohen Zuckergraden, so dass sich reichhaltige und ausgewogene Weine ankündigen.
In Vorarlberg war die Situation ähnlich: Nach spätem Austrieb kam es im April und Mai zu starken Regenfällen, die sich aber für den Wasserhaushalt als positiv herausstellten. Dadurch konnten nämlich ungewöhnlich lange sommerliche Trockenperioden, die sich später auch negativ auf den Ertrag auswirkten, ganz gut gemeistert werden. Bei verringerter Quantität konnten sehr hohe Zuckergrade und entsprechende Alkoholwerte erzielt werden. Die Erwartungen gehen daher in Richtung reifer und reichhaltiger Weine von selten kräftiger Statur.